von Monika Weiß @drweissmo
Im Jahr 1953 erklärte Fernsehkritiker Gerhard Eckert in seinem Buch Die Kunst des Fernsehens: „Der Film ist die zu möglicher Perfektion gebrachte Festlegung [Anm.: konservierte Inszenierung]. Demgegenüber ist das Fernsehen flüchtig, seine ‚live‘-Sendung ist nur in eben dem Augenblick sicht- und hörbar, wie sie im Studio vor sich geht.“ Somit besitzen vor allem Sendungen des frühen Fernsehens das „Merkmal der Gleichzeitigkeit von Entstehung und Erlebnis“, was den Fernseher zum echten Augenzeugen macht, „indem er in Bild und Ton in dem Augenblick dabei ist, wo sich etwas vollzieht“ (Eckert nach Kohout 2017, S. 75). Seither hat sich viel verändert. Aufzeichnungstechniken und Digitalisierung haben den Charakter und die Möglichkeiten des Fernsehens verändert, jedoch bleibt beim linearen Programm weiterhin das Live-Gefühl des flüchtigen Moments: schaltet man nicht ein, ist man nicht dabei. Vor allem bei tatsächlichen Live-Sendungen wie Sport- und Show-Events oder bei großen gesellschaftlichen wie politischen Ereignissen. Doch bleibt das Fernsehen nicht das einzige ausgewiesene Live-Medium, Live-Streaming in den sozialen Medien eröffnet den Produzierenden und dem Publikum neue, veränderte Möglichkeiten. Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden. Worin unterscheidet sich die neuere Form der Liveness vom Livecharakter des linearen Fernsehens?

Der Live-Charakter des linearen Fernsehens
Wie bereits in obigem Zitat aufgegriffen war vor allem in der Frühphase Liveness die medienspezifische Eigenheit des Fernsehens, die es vom Kino unterscheidet. Gleichzeitiges Senden und Aufzeichnen war nicht möglich, was sich erst durch die Technik der Magnetaufzeichnung Ende der 1950er/Anfang 1960er änderte. Auch wenn dadurch vorproduzierte Beiträge, Showelemente und Sendungen Einzug in die Fernsehprogramme nahmen, bleibt doch bis in die heutige Zeit das Live-Gefühl des linearen Schauens. Dabei ist es irrelevant, ob das Geschaute wirklich live gesendet wird: Fernsehprogramm suggeriert stets eine Gleichzeitigkeit von Ereignis und Teilhabe sowie die Flüchtigkeit des (Fernseh-)Moments. Wenn auch allein auf dem heimischen Sofa ist man Teil einer großen, dispersen Gemeinschaft, die gerade gleichzeitig dem gleichen (Fernseh-)Ereignis beiwohnt (Hickethier 1998, S. 85ff.).
Liveness charakterisiert damit nicht nur den Unterschied des linearen Fernsehprogramms zum als Aufzeichnung wahrgenommenen Kinofilm, sondern spätestens seit Einführung des Videorekorders auch zu allen anderen Medien der Aufzeichnung und individuellen Rezeption wie Video und DVD, heute ebenso zu den sendereigenen Mediatheken sowie zu Streaming-Plattformen wie Netflix oder Disney+. Die fehlende Programmlogik führt zum fehlenden Live-Charakter, was wiederum nicht das Gefühl der Teilhabe an einer größeren Zuschauenden-Gemeinschaft im Moment des Schauens auslöst.
Live-Charakter im Streaming
Es ist kein Geheimnis, dass das lineare Fernsehprogramm viele Teile der Bevölkerung, vor allem aber das junge Publikum, nicht mehr erreicht. Dafür gibt es verschiedene Gründe wie die Individualisierung der Alltage und Lebensumstände, eine Mediennutzungspraxis der Flexibilität, die Plattformvielfalt und damit eine Diversität der Medienangebote. Liveness jedoch erzeugt weiterhin großes Interesse bei Produzierenden und Nutzenden. Viele soziale Medien bieten mittlerweile standardisiert die Möglichkeit des Live-Sendens, genannt seien als Beispiele YouTube, Twitch und Instagram. „Live-Gehen“ und „Live-Dabeisein“ erfahren eine hohe Nutzung, ob nun im Bereich der Banalitäten des Alltags oder als Event.

Im Vergleich zur Liveness des Fernsehens bleiben sogar einige Dinge, etwa die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption, die Gleichzeitigkeit der Teilhabe eines dispersen Publikums sowie die Flüchtigkeit des Augenblickes. Aber was ist anders, was ist vielleicht ein Mehrwert im Live-Streaming gegenüber dem Live-Fernsehen? Annekathrin Kohout (2017, S. 75) identifiziert neben den Gefühlen der Unmittelbarkeit und des Dabeiseins vor allem die Interaktion als wichtiges Merkmal: „Live-Videos werden zahlreich kommentiert und die Kommentare wiederum oftmals zum Gegenstand des Sendeinhalts“, wodurch wiederum eine Anpassung des Contents erfolgt und ein gezieltes Eingehen auf die Zuschauenden möglicht wird. Diese wiederum werden in ihrer Rolle zu Programm-Mitwirkenden: „Z.B. konnten die Zuschauer des Livestreams von Jan Böhmermann während der US-Wahlnacht 2016 nicht nur dessen geselliger Runde beiwohnen, sondern auch mithilfe von Kommentaren direkt an deren Gesprächen teilnehmen oder solche auslösen“ (ebd.). Sendende reagieren in Direktansprache auf Kommentierende, was die Möglichkeiten des Fernsehens erweitert (etwa als Individualisierung der klassischen Fernseh-Ansprache mit „Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, …“). Live-Sendende in den sozialen Medien können im Aktion-Reaktion-Prinzip ihr Publikum auf erweiterter Ebene mit einbeziehen und damit Nähe, Gleichheit, Teilhabe und Gemeinschaft in stärkerem Maße erzeugen.
Das alte und das neue Live
Live-Streaming in den sozialen Medien hat im Vergleich zur Liveness des Fernsehens eigene Konventionen und Praktiken entwickelt. Zu dem Gefühl, ein Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein, dass im Moment zusammen informiert und/oder unterhalten wird, kommt unter anderem die Möglichkeit der Interaktion, die veränderte One-to-Many-Kommunikation, was aufgrund der Möglichkeiten des unmittelbaren Eingreifens und Kommentierens zum Durchbrechen der Grenze zwischen Zuschauen und Mitmachen führt. Nach Burgess und Green (2009, S. 79) könnten die sozialen Medien auch auf diese Weise – trotz thematischer Banalität – Räume für Engagement und Gemeinschaftsbildung schaffen: „Models of participation that function in this way range from peer-to-peer guitar lessons to ‘memes’ based around everyday consumer-citizenship, where a large number of YouTube participants respond in video form to questions like ‘What’s in your fridge?’”
Nach Bolter und Grusin (1999) lösen neuere Medien alte nicht ab, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Medien, medienkulturelle Praktiken und Medienprozesse sind nie in sich abgeschlossene Einheiten, sondern bilden ein Netz von Zitaten, Wiederholungen und Veränderungen, sie greifen ineinander und führen zur Umgestaltung von Techniken, Narrativen, Ästhetiken und Aneignungen. So eben auch bei Liveness, deren neuere Formen stets in eine Tradition älterer Formen zu verorten sind. Live ist eben live – und bildet stets Gemeinschaft, auch nach dem Fernsehen.
Literatur
Bolter, David und Richard Grusin. 1999. Remediation. Understanding New Media. Cambridge, Mass.: The MIT Press.
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). 2021. Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West: Unterhaltung in den 50er Jahren. https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/245520/unterhaltung-in-den-50er-jahren/ (letzter Zugriff: 21.01.2025).
Burgess, Jean und Joshua Green. 2009. YouTube. Online Video and Participatory Culture. Cambridge: Polity Press.
Eckert, Gerhard. 1953. Die Kunst des Fernsehens. Umrisse einer Dramaturgie. Emsdetten: Verlag Lechte.
Hickethier, Knut. 1998. Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler.
Kohout, Annekathrin. 2017. „Livestreaming is life“ in: POP. Kultur und Kritik, 6, 1, S. 74–77.

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