von @janazuendel
Previously on Fernsehmomente: In unserem Blog beschäftigen wir uns schon länger mit der umfassenden neoliberalen Umdeutung von Fernsehen im Streaming-Zeitalter: Sei es der Rollenwechsel von TV-Zuschauer:innen zu Followern (@anneganzert), das Weiterleben von Programmzeitschriften und –empfehlungen in Serien-Podcasts und Ankreuzplanern (@anneulrichtv) oder die (unsichtbare und ununterbrochene) Arbeit von Algorithmen im Online-Fernsehen (@kimhebben). Mit dem Angebot eines Fernsehens, das man „nach den eigenen Wünschen“ gestalten kann, ja sogar soll, stellen Mediatheken und Streaming-Dienste stellen neue Ansprüche an uns. Fernsehen, allen voran das Serienschauen, ist an kontinuierliche Selbstaufträge gebunden, das Nachholen oder Aufholen von Episoden wird zur fortlaufenden Freizeitaufgabe (@janazuendel). Mit dem Erfüllen dieser Selbstaufträge arbeiten wir jedoch nicht nur an unserer mediatisierten ‚Identität‘, insofern wir uns in der Rolle des Serienjunkies oder Hochleistungsbinger gefallen. Auch profitieren die Online-Fernsehanbieter von unseren Sichtungsleistungen, mit denen wir immer wieder neue Daten in deren Plattformalgorithmen einspeisen.
Fernsehen und die Kultur der „freiwilligen Selbstverpflichtung“
Das heutige (Web-)TV-Publikum ist weniger bedeutungsproduzierend (nach John Fiske) als vielmehr datenproduzierend. Und diese (Sichtungs-)Daten, wie bspw. Genre-Präferenzen, wiederholte Sichtungen, Wochenend-Binges oder abgebrochene Serien/Episoden, werden prompt in neue Watchlisten oder Empfehlungen umgewandelt – alles natürlich im Rahmen der „freiwilligen Selbstverpflichtung“. Dieser kulturpraxeologische Wandel der Fernseh(serien)rezeption geht weit über die eigentlichen Streaming-Plattformen hinaus. Die ‚Arbeitsmoral‘ verschiebt sich von Terminen einhalten zu Listen abarbeiten, nicht zuletzt auch durch zusätzliche Empfehlungen von Zwischenmittlern auf Social Media. Unzählige YouTube-Channels veröffentlichen quasi täglich Top10-Listen mit Serien, „die man jetzt bingen sollte“ oder „die jeder gesehen haben sollte“ (z.B. WatchMojo); Content-Creator auf TikTok fassen wöchentlich ihre jüngsten Serienerlebnisse zusammen, „die es wert sind, gebingt zu werden“ (z.B. @365binge). Mit der Vorgabe von Listen werden TV-Zuschauende animiert oder sogar unter Druck gesetzt, eigene Listen zu erstellen, um ihren Fernsehkonsum zu strukturieren. Das Phänomen ist Teil der umfassenden „Listen-Kultur“ („listicle culture“) des 21. Jh., wie sie Liam Cole Young (2017) beschreibt. Als Tools zur Organisation von Arbeit, zum Instruieren und Erteilen von Aufträgen sowie zum Erfassen und Überwachen von Daten schreiben Listen die ertrags- und leistungsorientierte, gewinnmaximierende Arbeitskultur in die digitale Medien- und Freizeitkultur ein.

Von Watchlisten zu Inventarlisten
Angetrieben von den Streaming-Diensten und vermittelnden Instanzen auf den sozialen und Videosharing-Plattformen, ist derzeit eine schiere ‚Explosion‘ der Fernseh-Listenkultur zu beobachten. Watchlisten auf Netflix und Co. sowie die Empfehlungen aus dem Metaverse, YouTube oder TikTok bereiten meinen Serienkonsum als To-dos vor, die ich noch zu sehen=erledigen habe. Über alles, was ich bisher schon gesehen=abgearbeitet habe, kann ich wiederum hinterher ‚Buch führen‘. Mit Apps wie SeriesGuide oder TV Time kann ich Inventarlisten erstellen, Sichtungen planen und meine Leistungen feiern – sprich: ‚eigeninitiativ‘ an meiner eigenen Serien-Biografie und meinem Fernseh-Ich zu arbeiten. Die Kultur des „playlisting“, in der User:innen als aktive Kurator:innen und ‚Supervisor‘ des eigenen Medienkonsums auftreten, wird auf diesen Apps transparent. Im Zusammenhang mit Online-Fernsehen und Video-Streaming ist vielfach vom „Pull-Modell“ die Rede: Mediennutzer:innen ‚ziehen‘ sich den gewünschten Content von Anbietern, anstatt dass letztere ihn einseitig ‚pushen‘. Anne Gilbert (2019) merkt jedoch an: „pull is labor […] labor that must be continually renewed and reviewed“. Durch die ständige Arbeit am individuellen TV-Programm, wechseln Zuschauende fast unmerklich in die Rolle von Mitarbeitenden in einer Rezeptionsleistungsgemeinschaft, in der es immer um das Abhaken von To-dos, effiziente Seriensichtungen und die nächste (Binge-)Aufgabe geht. Apps wie SeriesGuide und TV Time unterstützen dieses Sich-an-Serien-abarbeiten ausdrücklich. So wird TV Time beworben als „the tool you need to help you keep track of all the shows you love“ – ein Arbeitswerkzeug also, um meine Fernsehtätigkeit zu professionalisieren. Was unzweifelhaft ein Hilfsmittel ist, um angesichts der anhaltenden Flut an Serien und anderem TV-Content den Überblick zu behalten, ist zugleich ein weiterer Daten-Aggregator.

TV Time: Arbeitszeiterfassung und Leistungsprämien
Als Tracking-Tool erfasst TV Time ebenso sämtliche Informationen über meine Format-, Genre- und Sichtungsvorlieben wie die üblichen Streaming-Dienste – mit dem Unterschied, dass ich diese (für den korrekten und effektiven Gebrauch der App) selbstständig eingebe. Noch mehr freiwillige Selbstverpflichtung also, noch mehr Arbeit – unbezahlt, wenngleich nicht ganz unbelohnt, denn TV Time verleiht mir Pfadfinder-ähnliche Abzeichen, sogenannte „Badges“, für schnelles Serienschauen („Quick Watcher“), kontinuierliches Serienschauen („Serial Watcher“) und besonders leistungsstarkes Bingen einer bestimmten Serie („Marathoner“). Mit diesen digitalen Prämien, die ich selbstredend auf Facebook, Instagram oder Twitter teilen kann/soll, habe ich dann also einen ‚offiziellen‘ Nachweis über meine persönlichen Bestleistungen und das Recht, damit anzugeben („bragging rights“), erworben. In den Statistiken, die TV Time für mein Profil erstellt, kann ich mich meiner eigenen Leistungsfähigkeit rückversichern: Alle Serienfolgen und -staffeln, die ich als gesehen markiere, werden quasi als Arbeitszeiten erfasst und in Monaten, Tagen, Stunden umgewandelt – was für ein Resümee. Die App erfasst meine Arbeitseffizienz, u.a. wie schnell ich Episoden aufhole, und generiert, basierend auf meinem bisherigen Sichtungstempo, eine Art Zielvereinbarung – bis Dezember 2028 soll ich dann wohl alle Folgen von Serien, die ich angefangen habe, aufgeholt haben. Ob es wohl auch ein Mitarbeiter:innen-Gespräch oder Sanktionen geben wird, wenn ich das Ziel verfehle? Und wozu eigentlich der ganze Aufwand?

Self-Tracking und Self-Improvement im Fernsehkonsum
Für Motivation und Ansporn in einer (Medien-)Kultur aus freiwilligen Leistungsgemeinschaften sorgen die Apps durch Business-Sprech oder Vokabular aus dem professionellen Sport: der Serienkonsum wird als (Zeit-)Investment dargestellt, TV Time erfasst meine längsten Serien-Marathons und die Likes, die ich mir mit Kommentaren, Reviews oder Bewertungen „verdient“ habe, bisher erworbene Badges werden in einer Galerie ausgestellt. Insgesamt richten diese Tracking-Apps den Zweck der Rezeptionsarbeit neu aus. Der Fernsehkonsum wendet sich nach innen. Lose angelehnt an Stanley Cavells Theorie über den Fernseher und das Fernsehen als Monitor (1982) ließe sich sagen, dass sich das Verhältnis von Fernsehen und Zuschauer:innen verschoben hat. Während wir mit unserem Fernseh-Screen einst die Ereignisse in der Welt beobachtet haben, das Monitoring sich also nach außen richtete, verfolgen wir nunmehr introspektiv unser eigenes Fernsehverhalten. Das Fernsehen als Aktivität wird selbst zum überwachten Ereignis – und das gleich auf mehreren Screens (Tablet, Smartphone, PC etc.). Über TV Time und Co. findet ein Schulterschluss mit der zeitgenössischen Kultur der Selbstbeobachtung (Self-Tracking) und Selbstoptimierung (Self-Improvement) statt. Die Apps bespielen alle drei Dimensionen des Self-Trackings, die Stine Lomborg und Kirsten Frandsen (2016) herausgearbeitet haben (Kommunikation mit dem System/der App, Kommunikation mit sich selbst, Kommunikation mit anderen/sozialen Netzwerken). Erstens kommunizieren User:innen von TV Time mit einem spezifischen Bewertungs- und Belohnungssystem, das implizite Maßstäbe hinsichtlich Sichtungstempo, -effizienz und -quantität setzt und demgegenüber sie ständig Leistungsnachweise erbringen. Indem sie Buch führen über ihre Fernsehaktivitäten, nehmen Nutzer:innen zweitens ihre neue Rolle als Leistungsportler:innen an und erfassen für sich selbst ihre persönlichen oder Saison-‚Bestleistungen‘. Drittens können sie sowohl innerhalb der App, z.B. über Kommentare zu Episoden- und Serieneinträgen, als auch in anderen sozialen Netzwerken. Über diese kontinuierlichen Kommunikations- und Fernsehleistungen häufen wir kulturelles Kapital an und gliedern uns in die zeitgenössischen Medien(konsum)gesellschaft ein.
Literatur
Cavell, Stanley (1982): The Fact of Television. In: Daedalus 111(4), S. 75–96. http://www.jstor.org/stable/20024818, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024.
Gilbert, Anne (2019): Push, Pull, Rerun: Television Reruns and Streaming Media. Television & New Media, 20(7), S. 686–701. https://doi.org/10.1177/1527476419842418, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024.
Lomborg, Stine / Frandsen, Kirsten (2016): Self-tracking as communication. Information, Communication & Society, 19(7), S. 1015–1027. https://doi.org/10.1080/1369118X.2015.1067710, zuletzt aufgerufen am 22.04.204.
Young, Liam Cole (2017): List Cultures: Knowledge and Poetics from Mesopotamia to BuzzFeed. Amsterdam University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctv5jxm7n, zuletzt aufgerufen am 22.04.2024.


Hinterlasse einen Kommentar