Von Audiences zu Followings

Von @anneganzert

Mit der Digitalkultur hat das Fernsehen traditionelle Bildschirme schon lange verlassen. Streaming, produsage, social media, „social TV“, webisodes usw. haben neue Dimensionen der Interaktion zwischen ZuschauerInnen und Fernsehproduktion geschaffen, das Dispositiv mehrfach verändert und so auch die Dynamiken von Anhänglichkeit und AnhängerInnenschaft die hier zu Tage treten umgeformt. So stellt sich die Frage, ob das traditionelle Fernsehen seine Rolle als soziales Bindemittel verloren hat, eigentlich nicht mehr. Nur noch in seltenen Momenten, versammeln sich Familien und Freunde noch um den Fernseher, um gemeinsam eine Lieblingssendung anzusehen oder sich über aktuelle Ereignisse zu informieren. Dennoch fungiert Fernsehen, spezifisch das Serien schauen, nach wie vor als gemeinschaftliches Erlebnis, das Gespräche und Bindungen förderte, zumindest wenn man den Blick entweder auf etwas kleinere Gefüge oder sehr viel größere Kontexte lenkt.

Ein kritischer Blick auf die Rolle des Fernsehens als soziales Bindemittel in der Ära der Streamingplattformen offenbart jedoch einige Herausforderungen und Dilemmata. Zum einen kann die Individualisierung des Fernsehkonsums zu einer Fragmentierung der Zuschauenden führen, da gemeinsame Seherlebnisse seltener werden und Menschen sich in immer spezifischere Nischeninhalte zurückziehen können. Dies betrifft Nachrichten und alternative Nachrichten gleichermaßen wie Unterhaltungsangebote.

Auf der anderen Seite bieten Streamingplattformen auch neue Möglichkeiten für soziale Interaktion und neue Formen der Bindung. Social-Media-Plattformen bieten sich förmlich als Treffpunkte an, an denen Zuschauer sich über ihre Lieblingssendungen austauschen, Theorien diskutieren und gemeinsam mitfiebern können. So bieten die second screens eben auch die Möglichkeit, Verbindungen zu knüpfen, zu (ver-)folgen und Gemeinschaften zu bilden.

In dieser medialen Gemengelage kommen klassische Audience Studies an gewisse Grenzen, die schier unendlichen Auswahl an Inhalten und individuellen Seherfahrungen sprengen den Scope. Eine vielversprechende Perspektive, die dieser Herausforderung begegnet, liegt in der Betrachtung des Zuschauerverhaltens im Kontext sozialer Interaktionen und Beziehungen. Anstatt sich auf die Analyse des Konsums zu konzentrieren, können Forschende untersuchen, wie ZuschauerInnen Inhalte entdecken, diskutieren und teilen, und wie diese Interaktionen ihr Seherlebnis beeinflussen.

Hier können theoretische Rahmungen, wie z.B. der Begriff des „Following“ hilreich sein, die das Zuschauerverhalten in einem breiteren sozialen, medialen und kulturellen Kontext verstehen. Es geht darum, die Dynamiken und Einflüsse zu erfassen, die das Zuschauerverhalten formen und prägen, und daraus Erkenntnisse für die Fernsehwissenschaft zu gewinnen.

Denn wem oder was folgt ein Fernsehpublikum? Einzelnen Personen – gar InfluencerInnen? Sicherlich, das ist in der TV Landschaft nicht anders als anderswo. Hier ist gerade das Reality TV eine Bühne der personellen Medienkonvergenz. Auch Serien – deren zeitliche Strukturen eine signifikante Dimension des Following hervorstellen – haben natürlich AnhängerInnen, die Fan Studies haben hier schon ganze Arbeit geleistet. Aber ist man auch „FollowerIn“ eines bestimmten Senders, einer Produktionsfima oder eines Formates? Schon lange ist klar, dass von einer Multitude von Fernsehpublika gesprochen werden muss – und somit auch von einer Mehrzahl von Followings. Oder andersherum: Einzelne ZuschauerInnen sind Anhängerinnen mehrerer Dinge, Teil unterschiedlicher Gefolgschaften, plurare FollowerInnen die die Medienkonvergenz dessen, was noch unter Fernsehen verstanden wird voll ausnutzen können. 

Streamingplattformen bieten z.B. eine Plattform für eine breite Vielfalt an Inhalten, die in den traditionellen Medien möglicherweise eine geringere Rolle spielen. Webstreams ermöglichen es auch Einzelnen und verschiedensten Gruppen, ihre Botschaften und Perspektiven einem globalen Publikum zugänglich zu machen. Das mag zu einer Demokratisierung der Medienlandschaft beitragen, birgt aber auch Probleme. Dabei spielen kommerziellen Interessen, nationalen Gesetze und algorithmischen Empfehlungssystemen zusammen, und beeinflussen Inhalte wie Zuschauende zugleich. Gegenöffentlichkeiten, Fan Communties, Social Media Followings – die Bandbreite von gegenwärtigen TV-Gefolgschaften ist komplex und ambivalent. 

Eine wichtige Dimension dieser neuen Perspektive ist die Untersuchung von Gemeinschaften und Interaktionen, die sich um bestimmte Sendungen oder Genres bilden können. Diese Communities spielen eine entscheidende Rolle bei der Schaffung von gemeinsamen Seherlebnissen und können wertvolle Einblicke in die Zuschauerbindung und -loyalität bieten. Ansätze der Celebrity Studies koppeln sich hier an die Theorien der Massenmedien, während Follower und Following natürlich Begriffe sind, die aus der Welt der sozialen Medien stammen. Um nicht in dieser reinen Bezeichnungsebene zu verbleiben, lohnt es sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive unter ‚Following‘ oder ‚Gefolgschaft‘ verschiedene Arten von AnhängerInnenschaft oder Fandoms zu fassen, die sich an einem bestimmten Fokus strukturieren und ausrichten. Dies umfasst auch allgemeine und spezifische Interessens- sowie Informationsgemeinschaften, Filterbubbles, Prozesse der Meinungsbildung sowie in historischer Perspektive Phänomenbereiche, die Entwicklungen der Social Media vorausgehen, aber dennoch einer Logik der Vernetzung folgen. Die Praktiken des Nachfolgens oder Verfolgens, die sich aktuell beobachten lassen, haben eine besondere gesellschaftliche Brisanz, sind politisch und werden politisiert.

Book Plug: Im kürzlich als Open Access Veröffentlichung erschienenen Sammelband „Following. Ein Kompendium zu Medien der Gefolgschaft und Prozessen des Folgens“ finden sich mehrere einschlägige und innovative Texte, die Gefolgschaften und Fernsehen miteinander in Beziehung setzen. Christina Bartz schreibt z.B. über das „Teilen und die mediale Logik des Dabei-Seins“ und erklärt anhand einer Telekom Werbekampagne, wie lineares Fernsehen „einzigartigen Momente“ bedingen kann. Jurij Murašovs Beitrag in diesem Kompendium arbeitet die Bedeutung von Liveness des Fernsehens für die Formierung einer affektiven Gemeinschaft und die Ermöglichung eines politisch-ideologischen Ansprechens von televisuellen Gefolgschaften heraus. Aby Waysdorfs Text beschreibt pointiert die touristischen Effekte von Film und Fernsehserien, deren Fans sich buchstäblich auf die Reise begeben, um den Drehorten oder diegetischen Spielorten ganz körperlich auf die Spur zu kommen. 
In diesen und den anderen Texten des Bandes entfaltet sich so eine kultur- und medienwissenschaftliche Perspektive auf Followings aller Art, in denen in irgendeiner Form immer Medien am Werk sind, die die Gefolgschaften mit dem Gefolgten verschalten und zwischen diesen vermitteln.

Eine Antwort zu „Von Audiences zu Followings”.

  1. […] länger mit der umfassenden neoliberalen Umdeutung von Fernsehen im Streaming-Zeitalter: Sei es der Rollenwechsel von TV-Zuschauer:innen zu Followern (@anneganzert), das Weiterleben von Programmzeitschriften und –empfehlungen in Serien-Podcasts […]

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