20 Jahre Comedy Vérité!

von Markus Kügle

Einen Fernseh-Moment bitte?!

Der Trend dieser sogenannten Mockumentary-Serien hält an. Im November letzten Jahres gingen Die Discounter (co-created by Bruno Alexander, Emil & Oskar Belton, AMAZON PRIME VIDEO, seit 2021) in ihre dritte Runde. Und am 15. Januar 2024 heimste die Schöpferin von Abbott Elementary (created by Quinta Brunson, ABC, seit 2021) abermals einen Emmy dafür ein. Das ist beachtlich. 

Einziger Wermutstropfen dabei: In der Fernsehkritik, im Feuilleton und sogar auf Wikipedia (!) werden Serien dieserart gern als Mockumentary bezeichnet. Das verwundert. Denn erstens handelt es sich dabei streng genommen um einen filmtheoretischen Begriff. Zweitens passt er bei näherer Betrachtung nicht so ganz. Und drittens gibt es doch für solche Serien einen eigenen fernsehtheoretischen Terminus technicus, seit nunmehr zwei Jahrzehnten schon: Im März 2004 nämlich publizierte Brett Mills in der renommierten Zeitschrift Screen seinen Artikel „Comedy verite“ und rief anhand von The Office, U. K. (co-created by Ricky Gervais & Stephen Merchant, BBC2, 2001–03) eine neue „contemporary sitcom form“ aus. Das Zwanzigjährige dieses Terminus ist also ein guter Anlass für ein wenig Begriffspflege.

Warum Mockumentary?

Auf den ersten Blick macht Mockumentary sicherlich Sinn. Wir haben es hier mit Episoden fiktionaler Serien zu tun, die vom Stil her eine dokumentarisierende Lektüre nahezulegen scheinen. Will heißen, es gibt in erster Linie Interviews, die sich mit betonten handheld shots abwechseln, betont deshalb, weil sie von panswhip zooms und ‚nachgezogenem‘ Autofokus durchzogen sind, dazu gelegentliches covert filming. Und ja, es stimmt: Das ist nicht echt! Es sieht nur so aus! Allerdings ist damit nur ein einziges Merkmal der Mockumentary erfüllt!

Zwecks Überblicks: Aufgekommen ist dieses Portmanteau ab 1993. Der Filmkritiker Shane McNeil hat damals noch Man Bites Dog (OT: C’est arrivé près de chez vous, R.: Rémy Belvaux, André Bonzel & Benoît Poelvoorde, BEL, 1992) als „Mocu(Docu)mentary“ (S. 28) bezeichnet. Gemeint war damit eine Art von Film, „that moral conservatives and documentary traditionalists love to hate – a fake cinéma verité“ (ebd.). Seitdem ist viel passiert. Nicht nur, dass die MocuDocu gestaucht wurde. Sie wurde auch sukzessive mit höheren Idealen angereichert, wohin Faking it von Jane Roscoe und Craig Hight argumentiert. Wir haben es demzufolge bei Mockumentaries wahlweise mit bloßem Hoax, postmodernem Spiel, Parodie auf documentaries, Dekonstruktion des ganzen Genres, einer rigorosen Repräsentationskritik und/oder einer epistemologischen Fragestellung zu tun (Fahle, 2020, S. 89). Auch wenn in Diskursen darüber ‚der Form halber‘ primär The Office gern Erwähnung am Rande findet (Sudmann, 2018, S. 43), liegen die Verhältnisse hier grundlegend anders: Diese Serien laufen NICHT auf große Abschlusspointen hinaus, dass alles ‚nur vorgetäuscht‘ worden ist. Sie spielen NICHT mit dem DokumentarFILM. Weder kommentieren, kritisieren, dekonstruieren noch subvertieren sie das Dokumentarische. Und: Sie stellen auch keine epistemischen Fragen über Prozesse eigener Wahrheitsfindung. Auf den zweiten Blick macht Mockumentary somit nicht mehr so viel Sinn.

Warum Comedy Vérité?

Brett Mills bezog sich in seiner Namensgebung auf das cinéma vérité, somit eigentlich auf das französische Dokumentarfilmkino der 1950er/60er Jahre, welches maßgeblich von Jean Rouch geprägt worden ist – eigentlich, weil die Idee einer caméra provocateur hier negative Konnotation erfuhr. Konträr zum US-amerikanischen direct cinemawird das jeweilige Sujet dabei nicht so objektiv wie möglich dokumentiert, sondern es kommt beim Dreh zu Eingriffen. Die Kamera verhält sich also nicht wie eine fly-on-the-wall und die Dokumentarfilmschaffenden sprechen mitunter auch direkt mit ihren zu Dokumentierenden. Mills stützte sich dabei John Corner. Dieser zog vom Cinéma Vérité Verbindungslinien zur Docusoap, welche er als „neo-verité“ (Corner, 1996, S. 50) betitelte. Entscheidend für Mills Namensgebung waren also in erster Instanz bestimmte inszenatorische Stilmittel des Audiovisuellen:

„This low-key atmosphere is representative of the look of the programme as a whole. Shot on hand-held cameras, with muted colours and abandoning the fourth wall, the programme uses the visual signifiers of another new form of television: the docusoap.“ (Mills, 2004, S. 69)

In zweiter Instanz war für ihn relevant, welche Inhalte mittels solch neuer Formen zutage gefördert werden können …

Inhalte der Comedy Vérité 

Mehr als bloßer Stil? Darunter lagert noch ein sekundäres Zeichensystem, welches sich explizit an „audiences raised on television formats“ (ebd., S. 78) richtet. So haben wir es bei David Brent (Ricky Gervais) aus The Office, U. K. mit einer Figur zu tun, die sich angesichts des Gefilmt-Werdens wie folgt gebärdet (Abb. 1):

„Brent performs as if he is in a sitcom, awaiting everyone’s attention, adopting a stance similar to standup comedians, delivering preconceived lines and leaving a pause after jokes for laughter.“ (ebd., S. 72).

Abb. 1: „ Charity“ (S02E05, o. a. d.: 28.10.2001, [TC: 00:11:07]).

Die ‚Witze‘, die er reißt, sind aber „awful attempts at sexist, racist outdated humour“ (ebd.). Und seien wir uns ehrlich: Politisch korrekter waren die punchlines eines Al Bundy auch nicht. „[A]udiences raised on television formats“ (ebd., S. 78) wissen das. Nur gab es damals noch laugh tracks … insbesondere die fallen in den neuen Sitcoms demonstrativ weg und machen so betretener Stille, ja peinlich berührten Schweigens Platz – Cringe wird das heutzutage genannt.

Wir haben hier also keine Parodie auf audiovisuelle Stilmittel des Dokumentarischen, wie bei der Mockumentary, stattdessen ergeht mit ihnen eine Travestie! Comedy Vérité muss folglich als klassische Sitcom angesehen werden, die sich im inszenatorischen Gewand einer Docusoap (re)präsentiert. Und wenn three-camera-setup und laugh trackswegfallen, können stockkonservative Gesinnungen markant hervortreten.

Formen der Comedy Vérité 

Nach Mills spiegeln sich die beiden Fernsehformate allerdings gegenseitig und eröffnen neue Sichtweisen aufeinander. Inhaltlich erfährt die Sitcom Subversion, formal die Docusoap. Sie verschlingen (sich in)einander, wie die zwei Schlangen des Auryns. Denn Docusoaps müssen aus ihrem Aufnahme-Material Unterhaltung machen (the entertainment rational), was zur Aufgabe ihrer observational role führt. So wird zwar der Person, die unbedingt ins Fernsehen will, bereitwillig Aufnahme-Raum für Selbstdarstellungen gegeben. Aber, … das allein reicht nicht, um entsprechend Sendezeit füllen zu können. 

In der Comedy Vérité wird speziell darauf referiert. Bei The Office, U. K. hat es Mills an der Figur Tim Canterburys (Martin Freeman) dargelegt: Dieser wäre „the unhappiest person in the office“ (ebd., S. 73), weswegen wiederholt zu sehen ist, wie er verzweifelte Blicke in die Kamera wirft (Abb. 2) – „clearly looking for a way out“ (ebd.). 

Abb. 2: „The Quiz“ (S01E03, o. a. d.: 23.07.2001, [TC: 00:03:03]).

Dass hierauf nicht reagiert wird, mag noch im Rahmen des Anspruchs neutraler Beobachtung gerechtfertigt erscheinen, nicht mehr allerdings, wenn diese Aufnahmen im Schnitt mit jenen von Brents Possenreißerei kombiniert werden. Denn so wird nicht nur David desavouriert, sondern auch Tim, womit sich die Docusoap-Haltung selbst ad absurdum führt. 

Denn Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, sowie das Einfügen von reaction shots sind Wesensmerkmale der Sitcom. Die Form einer Docusoap scheitert also quasi an einer adäquaten Vermittlung von sitcom-haften Figuren – so eklatant, dass sie damit ihre eigene konservative Haltung nach außen kehrt.

Kurzum: All diese Serien müssen mehr als Comedy Vérité angesehen werden. Denn als Mockumentary gesehen verschiebt das nur den Blick darauf und lenkt von den wahren Qualitäten und Aussagemöglichkeiten ab, denen einer „subtle, yet powerful, critiques of television media“ (ebd., S. 78).

Literatur

Corner, John (1996): The Art of Record: a Critical Introduction to Documentary. New York/ Manchester: Manchester University Press.

Fahle, Oliver (2020): „Mockumentary. Eine Theorie“, in: Balke, Friedrich/Ders./Urban, Annette (Hg.): Durchbrochene Ordnungen. Das Dokumentarische der Gegenwart. Bielefeld: transcript. S. 83–101.

McNeil, Shane (1993): „We´ll never geht enough … Man Bites Dog, Documentary Theory and other Andalsian Ethics“, in: Cinema Papers, #95, Oktober, S. 28–31. 

Mills Brett (2004): „Comedy verite: contemporary sitcom form“, in: Screen, #45:1, S. 63–78.

Roscoe, Janet/Hight, Craig (2001): Faking it. Mock-documentary and the subversion of factuality. Manchester: Manchester University Press.

Sudmann, Andreas (2018): „Fake-Dokus und ihr Beitrag zur Krise der Repräsentationskritik“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft #19:2, Bielefeld: transcript, S. 42–53.

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