Vergangenen Oktober berichtete @kimhebben im Beitrag Fernsehen 24/7 darüber, wie Post-TV das Bild des Fernsehens überarbeitet und wie Algorithmen auf Streaming- und Social-Media-Plattformen funktionieren. In diesem Beitrag wenden wir uns nun den (alten und neuen) TV-Publika zu, die auf die eine oder andere Weise immer fürs Fernsehen arbeiten.
Von Jana Zündel (@janazuendel)
Dranbleiben, mitraten, abstimmen und vor allem pünktlich (wieder-)einschalten. Dass Fernsehen seine Zuschauer:innen fordern und zu (geistiger) Arbeit animieren kann, bestreiten heute allenfalls noch kultur- und ideologiekritische Schulen à l’Adorno et cetera. Schon die Cultural Studies wussten, dass Fernsehen eben nicht als anspruchslos und passiv abgekanzelt werden kann. Stattdessen ist das TV-Publikum als ein aktives, weil bedeutungsproduzierendesanzunehmen, dessen Mitarbeit vom klassischen Rundfunk schon lange gefördert wird, etwa durch Aufforderungen zum Weiterschauen, Maßnahmen zur proaktiven Beteiligung (z.B. Abstimmungen, Einbindung von Social-Media-Posts), oder Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation (via Second Screening oder Zusatzmaterial im Web, u.v.m.). Dennoch halten sich Vorurteile über „Dauerglotzer“ und „Couch Potatoes“ unter Fernsehverächtern hartnäckig.
Online TV: Alles außer passiv
Auftritt „neues Fernsehen“: An den überall und jederzeit verfügbaren televisuellen Webangeboten ist so gar nichts mehr passiv, vieles dafür interaktiv und herausfordernd. Haben wir den kontinuierlichen TV-Konsum früher abgekanzelt als dumpfe Tätigkeit, u.a. von Arbeitslosen, nehmen wir ihn heute als dankbare Freizeitarbeit entgegen und feiern wir unsere Sehleistungen: Die neuste Staffel Stranger Things am Wochenende „durchgebingt“ – krass! Die neuste Folge House of Dragon gleich frühmorgens nach ihrem Erscheinen auf WOW gesehen? Super, so kann man nicht mehr „gespoilert“ werden. Immer up-to-date bei den Fantheorien um Yellowjackets? Na klar, man will ja schließlich mitreden können. Fernsehen ist zu einer stetig wiederkehrenden, alltäglichen Selbstverpflichtung geworden, mittels derer wir uns nicht zuletzt auch in eine dynamische Mediengesellschaft einzugliedern suchen.
Fernsehen, ein tägliches To-do
Das Medium hat es, durch seine grundsätzlich serielle Form und institutionelle Funktion, schon immer verstanden, das Publikum in seinen Dienst zu stellen, es zu engagieren – sei es nun das Studiopublikum vor Ort oder die heimischen Zuschauer:innen vor, während und nach einer Sendung. Die ‚Aufgaben‘ an Mitarbeitenden im Publikum sind eigentlich schon Routine: weiterschauen, weiterschauen, hier gibt’s noch viel zu sehen. Immer schön dranbleiben, an der Sendung wie auch an der Unterhaltung über die Sendung. Watch. Rewatch. Discuss. Rinse. Repeat. Mehr denn je geht es heute um das ständige (Weiter‐)Arbeiten an der eigenen Fernseh-Rezeption. Wie wir unsere Fernseh‐Aktivitäten handhaben, wir über sie sprechen und wie das Medium wiederum zu uns spricht, – all das scheint durchzogen von Arbeitsterminologie und Büro-Floskeln. Spitzen wir es einmal zu: Wir ackern uns in Vollzeit durch televisuelle Inhalte, erteilen uns selbst Aufträge und treffen Zielvereinbarungen („Ich muss noch die neuesten Folgen von xy aufholen“; „Dieses Wochenende schaue ich die neue Staffel xy durch“), erstellen Watchlisten mit zukünftigen (TV-)To-Dos. Auch die „Arbeitsanweisungen“ haben sich entsprechend verändert – oder vielleicht auch nicht?
Aus Programmhinweisen werden Arbeitsaufträge
Während lineares Fernsehen uns explizit zum Dranbleiben auffordert und dabei stets versichert, dass es gleich oder spätestens nächste Woche weitergeht, gehen seine webbasierten Verwandten neoliberale Wege: Video-on-Demand-Anbieter schicken uns (anstatt der üblichen Programmhinweise) nun „Friendly Reminder“ über noch ausstehende Sichtungen per App‐Notifikation oder via E-Mail. „Wir haben neue Folgen für Sie“ heißt es da, oder „Nicht vergessen: Serie xy ist zurück“ – ganz schön pushy.

App-Benachrichtigungen und E-Mail-Reminder von Netflix (eigene Screenshots).
Dieses Vorgehen ergänzt natürlich die hintergründigen Datenerfassungen und persönlichen Empfehlungen der Streaming-Plattformen. Ein Kommentar zum digitalen Fernsehen von TV-Kritiker David Carr aus dem Jahre 2010, trifft es schon ziemlich genau: „We don’t watch TV anymore as much as it seems to watch us, recommending, recording and dishing up all manner of worthy product“. Das „Produkt“, also die jeweils empfohlene Serie, ist nun aber nicht mehr nur das, sondern gleichzeitig eine Aufgabe, ein Leistungsziel. Und Fernsehen, unendlich mitteilsam, findet Mittel und Wege, uns diese Aufgaben zu übertragen: Der Appell weiterzuschauen erreicht uns über diverse Bildschirme und Endgeräte. Fernsehen ermöglicht, ja begrüßt mobiles Arbeiten. Denn Streamen können wir überall, nicht nur im „Home Office“. Smarte Screens und App-Benachrichtigungen erweisen sich als neue Zugriffe auf das (Web-)Fernsehpublikum – im Grund spiegeln sie die neoliberale Erwartungshaltung von Arbeitgebern, dass ihre Mitarbeitenden abseits des eigentlichen Arbeitsplatzes erreichbar bleiben.
Aus Terminen werden To-Dos
Auch mahnen Streaming-Angebote, obgleich non-linear und zeitlich flexibel, gerne zur ‚pünktlichen‘ oder zumindest zeitnahen Wiederaufnahme der TV‐Mitarbeit, sobald eine neue Episode oder Staffel veröffentlicht wird. Gerade durch zeitversetztes Video-on-Demand, so sieht es Todd Sodano 2012 vorher, werde Fernsehen zur „Hausaufgabe“, die uns die Plattformen und ihre Social-Media-Erweiterungen explizit stellen (und die wir uns auch selbst stellen sollen). Serien-To-dos werden vorbereitet durch Ankündigungen via Facebook, Instagram oder Twitter – und auch hier kommt der arbeitsbezogene „Reminder“ wieder ins Spiel. Mittels Erinnerungsfunktion lassen sich die neuen Rezeptionsaufgaben sogleich im medialen Alltag verankern. Dass man Serien im Plattform-Fernsehen nicht mehr verpassen kann, erhöht den Druck: Nun dürfen wir sie auch nicht mehr verpassen. Netflix‘, Prime Videos oder Disneys Social-Media-Kanäle fördern unsere „Verpassensangst“ (Fear of missing out, kurz: FOMO). Sie schaffen – trotz der doch eigentlich flexiblen Arbeitszeitenregelung im Abo-Vertrag mit den Streaming-Diensten – künstliche Termine fürs Fernsehen, die Serien-Liebhaber:innen häufig auch gar nicht verpassen wollen. Auch der eigene Freizeitanspruch (oder vielleicht eher: Leistungsanspruch) orientiert sich an neoliberalen Prinzipien. Serien abarbeiten und Premierentermine einhalten als persönliche Bereicherung.

Push-Nachrichten und virtuelle Events zur Erinnerung an die Staffelpremiere von The Boys (2022).
Emotionale Arbeit und freiwilliger Ausdauersport
Wenn Serien als ‚erfüllenden‘ Freizeitaufgabe angesehen werden, ist dies mit viel emotionaler Arbeit verbunden. Tatsächlich ist „affective labor“ oder „emotional labor“, die etwa Zufriedenheit, Aufregung, Leidenschaft o.ä. Empfindungen produziert, ein Merkmal neoliberaler Arbeitsphilosophie, so Nick Couldry (2008). Sind die Streaming-Nutzer:innen also „emotional investiert“ in eine Serie, kann dies in ein (aus Sicht der Plattformen)‚produktives‘ Fernsehen übersetzt werden: möglichst schnelles, nahtloses Weiterschauen, ohne Pausen, und dann gleich weiter zum nächsten To-do. Fernsehen als Ausdauersport – und die Streaming-Dienste geben den Startschuss zum Binge-Rennen. Durch gezieltes Marketing (#letsbinge) setzen sie Serienfans in einen Wettbewerb miteinander. Instagram‐Posts veröffentlichen wöchentliche und monatliche Terminpläne für neuen TV-Content, die Insta-Story fordert die Follower auf, ihr neues Serien-To-Do zu markieren. In den Kommentaren Media tauscht man sich dann darüber aus, mit welchen Shows man gerade obsessed ist, und teilt persönliche Rekorde, wie schnell man selbige Serien durchgesehen hat.

Netflix‘ Wochen- und Monatspläne werden zu Serien-To-Do-Listen.
Und am Ende mag man meinen, dass das alles freiwillig, komplett aus eigenem Antrieb geschieht. Man mag es perfide (und zynisch) finden, doch in der zeitgenössischen Rezeptionskultur soll Arbeit offenbar nicht mehr nach Arbeit aussehen. Stattdessen verschaffen Streaming-Dienste und neues Fernsehen ihrem Publikum eine Illusion von freiwilliger Leistungsgemeinschaft. Denn Plattform-Fernsehen ist schließlich „nach den eigenen Wünschen“ gestaltet und Serienschauen ein freiwilliger Selbstauftrag, der Spaß macht. Oder?
Teil 1 von 2. To be continued…
Literatur
Carr, David (2010): The Glut of Shows Unwatched. The New York Times, 05. September 2010. https://www.nytimes.com/2010/09/06/business/media/06carr.html, Zugriff am 28.03.2023.
Couldry, Nick (2008): Reality TV, or the secret theater of neoliberalism. In: Review of education, pedagogy, and cultural studies 30 (3), S. 3-13.
Sodano, Todd M. (2012): Television’s Paradigm (Time-)Shift. Production and Consumption Practices in the Post-Network Era. In: Melissa Ames (Hg.): Time in television narrative. Exploring temporality in twenty-first century programming. Jackson: University Press of Mississippi, S. 27–42.


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