Fernsehmomente in 2025

Als Special Feature präsentierten die AG-Mitglieder es bereits zwei Jahre lang einen Weihnachtsspecial. Diese jährliche Tradition wird nun fortgeführt. Jedoch sollen nicht wieder die „persönlichen Lieblinge unter den Weihnachts- und Festtagsfolgen“ vorgestellt werden. In diesem Jahr geht es vielmehr um den Fernsehmoment des Jahres 2025. 

Das verbindende Fernsehmoment von Buffy von Monika Weiss

Große Fernsehmomente können durchaus individuell und privat sein, ganz im Sinne der Fernsehen als Lagerfeuer– Metapher: So gilt die Tätigkeit Fernsehen spätestens seit dem Einzug in die Wohnzimmer als gemeinschaftsstiftendes Erlebnis, bei dem man sich um den Apparat sammelt und sich zusammen an den Inhalten „wärmt“, ähnlich wie am benannten Lagerfeuer. Dabei geht es jedoch nicht vorrangig um das ausgesendete Programm, sondern vielmehr um das verbindende Gefühl in der gemeinsamen Rezeption, welches heute auch Streaming- und Mediathekenangebote erzeugen können. Gemeinsame Fernsehmomente wie die Spielshow am Samstagabend haben vor den 2000ern regelmäßig die Generationen einer Familie miteinander verbunden. Das enorm erweiterte Angebot via Streaming, Mediatheken oder auch Social Media sowie die Loslösung der Rezeption vom Fernsehen hin zu einer Vielfalt an (portablen handheld) Geräten erschwert solche gemeinsamen Momente. Doch manchmal kommen sie zu einem, so geschehen bei mir und meiner 14-jährigen Tochter in diesem Jahr: Wir streamten zusammen sieben Staffeln Buffy the Vampire Slayer (USA 1997-2003).

Lange bevor Buffy neben Twin Peaks (USA 1990-1991) und The X-Files (USA 1993-2002) als eine der ersten Quality-TV Serien gehandelt wurde hat sie meinen jugendlichen Alltag begleitet. Eine Serie über eine junge und schöne Frau, die optisch das Abbild der Damsel in distress ist und darauf warten sollte, von einem Helden gerettet zu werden, die jedoch die Spielregeln des Horrorgenres durchbricht und selbst zur Retterin und Heldin wird, war offensichtlich genau das, was ich in meiner Pubertät sehen wollte, womit ich mich identifizieren wollte. Außerdem bereiteten mir vor allem der Genre-Mix von Horror und Coming-of-Age, Komödie, Fantasy und durchaus auch Weekly-Soap ebenso wie der kreative und oftmals experimentelle Umgang mit filmischen Mitteln bei der Rezeption große Freude. 

Abb.: https://buffy.fandom.com

Und all das habe ich wiedergefunden bei der erneuten Rezeption der Serie mit meiner Tochter. Ein Abend der Langeweile brachte uns im Frühjahr dazu, über die Streaming-Plattform Disney+ auf die Serie zuzugreifen. Ich war mir nicht sicher, ob heutige Teenager mit ihren veränderten Sehgewohnheiten und ästhetischen Prägungen die Serie noch annehmen. Die erste, doch noch sehr trashig anmutende Staffel, mussten wir zusammen als Hürde überstehen, doch dann hat das Fanfieber nicht nur mich, sondern auch meine Tochter gepackt. Da nicht durch ein Programm reglementiert musste ich als Erwachsene mit einer aufgesetzten Vernunft immer wieder das Binge-Watching durchbrechen (was mir natürlich leicht viel, da ich ja um alle Handlungsstränge bereits wusste). Doch was soll ich sagen: Sieben Staffeln, insgesamt 144 Episoden á 45 Minuten, waren im Laufe des Sommers geschaut – und das generationsübergreifende, gemeinschaftsstiftende Erlebnis des Fernsehens wieder da. Meine Jugendheldin Buffy wurde in unserem Fernsehsommer 2025 auch die meiner Tochter. Und wir warten nun zusammen auf die angekündigte Fortsetzung.

Warten auf das Finale von Stranger Things von Kim-Carina Hebben

Mein Fernsehmoment 2025 ist kein einzelnes Ereignis, sondern ein Zustand: geteilte Zeit. Ein Zustand, der paradoxerweise nicht im linearen Fernsehen stattfindet und dennoch tief in dessen Logik verankert ist. Es ist das kollektive Warten auf das Finale von Stranger Things – ein Warten, das selbst zum Ereignis geworden ist und mir eindrücklich vor Augen geführt hat, was Fernsehen heute noch, oder wieder, sein kann.

Mit dem Release von Volume 1 der fünften und letzten Staffel Ende November 2025 hat Stranger Things einen Auftakt geschaffen, der nicht nur narrative Fäden aus den vorherigen Staffeln zusammenführt, sondern auch ein Serienritual reaktiviert: das gemeinsame Warten auf den nächsten Höhepunkt. Kein sofortiger Abschluss, sondern eine bewusst hergestellte Spannung, die sich über Zeit entfaltet. Die Staffel erscheint in Etappen, deren Story-Arcs und Cliffhanger immer nur ein Versprechen von „mehr“ einlösen. Plötzlich fühlt sich das wieder an wie ‚klassisches‘ Fernsehen. Nicht als endlos verfügbare Ware im Streamingregal, die individuell konsumiert und beschleunigt werden kann, sondern als getaktetes Ereignis, das eine Erwartungskurve vorgibt. Volume 2 erscheint an Weihnachten, Volume 3 zu Silvester. Feste Termine, die nicht nur die Serie strukturieren, sondern auch den Alltag der Zuschauenden. Die Serie gleitet damit aus dem Binge-Modus in einen festgelegten Jahresrhythmus und erzeugt einen Countdown, der fast altmodisch wirkt und vielleicht gerade deshalb so elektrisiert. Diese zeitliche Bündelung erzeugt eine besondere mediale Ereignishaftigkeit. Durch die Konzentration auf wenige, symbolisch aufgeladene Termine wird Aufmerksamkeit nicht zerstreut, sondern gesammelt. Weihnachten und Silvester werden so zu kulturellen Fixpunkten eines globalen Medienereignisses. Verstärkt wird dieser Effekt durch den zeitgleichen Release in über 300 nordamerikanischen Kinos sowie die weltweit simultane Ausstrahlung auf Netflix. Stranger Things wird nicht nur geschaut, sondern erwartet – Appointment TV par excellence. Parallel fährt Netflix eine elaborierte Transmedia-Kampagne, die mit visuellem Countdown, Merchandise, Call to Actions, globalen Fanevents und massenhaftem Behind-the-Scene-Material und Social Media Snippets, an das Peak Transmedia Storytelling des Quality TV der Vor-Streaming-Ära anknüpft.

Parallel dazu entfaltet sich auf Social Media ein paradigmatisches Beispiel von forensic fandom. Fans agieren wie digitale Ermittler:innen: Sie durchforsten Szenen aus fünf Staffeln, verknüpfen visuelle Details, Dialogfragmente und symbolische Setzungen zu immer neuen Bedeutungsnetzen. Diese intensive Deutungsarbeit macht die Serie zu einem offenen Archiv, das nicht abgeschlossen ist, sondern kontinuierlich neu geordnet, interpretiert und erweitert wird. Bedeutung entsteht hier nicht allein durch das Erzählen der Serie, sondern durch die kollektive Analyse ihrer Zuschauer:innen. Gerade in diesen Wochen des Wartens zeigt sich, wie produktiv und gemeinschaftsstiftend Serienrezeption sein kann. Noch bevor Volume 2 und 3 erschienen sind, ist das Warten selbst zu meinem Fernsehmoment 2025 geworden. Es ist ein Ritual zwischen Vorfreude, digitalem Detektivspiel und dem Gefühl, Teil eines größeren Medienereignisses zu sein.

Stranger Things hat mir damit nicht nur seine erzählerische Komplexität erneut vor Augen geführt, sondern auch gezeigt, wie sehr Fernsehen von geteilten Zeitlichkeiten lebt. Umso größer ist meine Vorfreude darauf, um die Jahreswende herum vor dem Bildschirm zu sitzen – egal ob groß oder klein – und diesen Moment mitzuerleben. Nicht allein und nicht auf einen Inhalt reduziert, sondern eingebettet in ein kollektives Warten und Wissen, das Fernsehen und seine Paratexte als Ereignis erfahrbar macht.

Abb.: Tagesspiegel 13.12.2025, © Cay Dobberke (https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/charlottenburg-wilmersdorf/serien-fans-warten-stundenlang-ansturm-auf-berliner-stranger-things-weihnachtsmarkt-am-kudamm-15029222.html) [Zugriff: 09.12.2025].

Und wieder in einer Kleinstadt – Parallelen von O.C., CaliforniaOne Tree Hill und Stranger Things  von Christine Piepiorka

Mein Fernsehmoment des Jahres 2025 ist eher ein Streamingmoment und zwar einezufälliger Re-Watch, der mich in meine Jugend zurückführte. Ich scrollte mal wieder nach einer Serie, denn genügend Serien zum Sehen habe ich abgespeichert. Wie sollte es anders sein… als Medienwissenschaftlerin sowieso. Content, den ich sehen wollte, den ich aufgrund der Profession sehen „musste“… Und aus irgendeiner Art Algorithmus heraus – ich vermutete direkt einen Zusammenhang zu anderen Serien (dazu gleich mehr) – wurden mir die Serien O.C., California und One Tree Hill  angezeigt. Wow – flashback – mein Jugend und das Drama in diesen Serien… Wie sollte es dann anders sein, ich gucke rein, ich bleibe zum eigenen Erstaunen hängen… wohlgemerkt bei beiden Serien. Aus Nostalgie und Erstaunen.

Abb.: Tylt 15.12.2018 (https://thetylt.com/entertainment/the-oc-one-tree-hill-teen-drama-the-wb-the-cw-fox) [Zugriff: 09.12.2025].

Da derzeit die 5. Staffel zu Stranger Things läuft, beginne ich über die Parallelen dieser Serien nachzudenken, gibt es denn welche, obwohl über 20 Jahre dazwischen liegen? Mein Streamingmoment und Erkenntnismoment beginnt: 

Aus medienwissenschaftlicher Perspektive lassen sich zwischen den Fernsehserien Stranger ThingsO.C., California und One Tree Hill trotz ihrer unterschiedlichen Genreverortungen signifikante strukturelle und narrative Parallelen identifizieren. Allen drei Formaten ist die zentrale Ausrichtung auf ein Coming-of-Age-Narrativ gemeinsam, in dem Jugend als Übergangs- und Aushandlungsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein konzeptualisiert wird. Die Figuren durchlaufen Prozesse der Identitätskonstruktion, die wesentlich durch soziale Beziehungen, emotionale Bindungen, Erfahrungen von Verlust sowie moralische Entscheidungsfindungen geprägt sind. Diese Entwicklungen werden nicht episodisch abgeschlossen, sondern im Rahmen serieller Erzählstrukturen über mehrere Staffeln hinweg entfaltet, wodurch individuelle Reifungsprozesse als langfristige, dynamische und konflikthafte Verläufe nachvollziehbar werden. Ein weiteres verbindendes Element stellt der Schauplatz der Kleinstadt dar, der in allen drei Serien als scheinbar überschaubarer, vertrauter und sicherer Sozialraum inszeniert wird. Zugleich fungieren Hawkins, Tree Hill und Newport Beach als narrative Mikrokosmen, in denen latente Konflikte, individuelle Traumata und gesellschaftliche Spannungen sichtbar gemacht werden. Innerhalb dieser räumlichen Konstellationen werden über private Geschichten hinweg größere soziale Problemlagen verhandelt, darunter familiäre Dysfunktionen, soziale Ungleichheit, Leistungs- und Anpassungsdruck sowie Erfahrungen von Exklusion. Die Kleinstadt wird damit zu einer Projektionsfläche kollektiver Ängste, Sehnsüchte und normativer Erwartungen. Darüber hinaus zeichnen sich alle drei Serien durch eine ausgeprägte Ensemble-Dramaturgie aus, in der narrative Bedeutung weniger aus einzelnen Protagonist*innen als vielmehr aus den relationalen Gefügen zwischen den Figuren generiert wird. Identität erscheint hierbei nicht als statische Eigenschaft, sondern als relationales Konstrukt, das sich innerhalb sozialer Netzwerke fortwährend neu formiert. Eine zentrale Rolle bei der Herstellung emotionaler Bindung zwischen Text und Publikum übernimmt der gezielte Einsatz von Musik, die als affektives Steuerungsinstrument fungiert. Während O.C., California und One Tree Hill vornehmlich zeitgenössische Pop- und Indie-Musik zur Emotionalisierung und Generationenadressierung einsetzen, bedient sich Stranger Things synthetischer Klangwelten, um sowohl nostalgische Affekte als auch atmosphärische Irritationen zu erzeugen. Medienwissenschaftlich besonders relevant ist schließlich die prominente Funktion von Nostalgie und Trauma innerhalb der seriellen Erzählweise. Nostalgie fungiert dabei nicht lediglich als retrospektives Element, sondern als strategisches narratives und ökonomisches Instrument zur Herstellung emotionaler Nähe und Wiedererkennbarkeit. Trauma wiederum wird nicht narrativ abgeschlossen, sondern seriell fortgeschrieben und bildet einen zentralen Motor der Handlung. Insgesamt verdeutlichen die drei Serien, wie sich genretypische Grenzen zunehmend auflösen und populäre Fernsehserien als emotionale Sozialisationsräume fungieren, in denen individuelle Biografien genutzt werden, um gesellschaftliche Erfahrungen und kollektive Erinnerungsprozesse medial zu verhandeln.

Andor – Als hätte HBO Star Wars produziert von Markus Watzl

Im Dezember 2016 erschien mit Rogue One, inszeniert von Gareth Edwards, der erste sogenannte Spin-off-Film des Star Wars-Franchises, der außerhalb der etablierten Skywalker-Saga verortet ist. Der auf einer Idee des langjährigen ILM-Mitarbeiters und Oscarpreisträgers John Knoll basierendeFilm erzählt die unmittelbare Vorgeschichte des ursprünglichen Star Wars-Films von 1977 und
markiert zugleich den ersten expliziten Kriegsfilm innerhalb der Reihe. Der überraschende Tod von Carrie Fisher, der Darstellerin der Prinzessin Leia, wenige Tage vor dem Kinostart verlieh dem Projekt eine zusätzliche tragische Dimension. 2022 startete auf Disney+ die erste Staffel von Star Wars: Andor, die die Vorgeschichte von Cassian Andor, einem zentralen Charakter aus Rogue One, entfaltet. Die von Tony Gilroy konzipierte und inszenierte Serie endete 2025 nach zwei Staffeln und insgesamt 24 Episoden.
Besonders die zweite Staffel setzte einen neuen Maßstab für Fernsehproduktionen innerhalb des Franchise; ihr außergewöhnlich hoher Production Value von angeblich 705 Millionen Dollar ist evident. Bemerkenswert ist jedoch, dass Andor weniger durch visuelle Schauwerte überzeugt – ein Bruch mit einer Marke, die seit fast einem halben Jahrhundert für spektakuläre Spezialeffekte steht. Die Serie verzichtet bewusst auf ikonische Elemente wie Sternzerstörer, X-Flügler oder Darth Vader und richtet den Fokus stattdessen auf die politische und psychologische Entwicklung des späteren Rebellenoffiziers Cassian Andor (Diego Luna).
Andor analysiert die Genese politischer Radikalisierung unter autoritären Bedingungen und zeigt, wie individuelle Überlebensstrategien in kolonial ausgebeuteten Peripherien des Imperiums in kollektive Widerstandsformen übergehen. Durch die Verschränkung persönlicher Verlusterfahrungen, ökonomischer Prekarität und struktureller Repression entsteht ein vielschichtiges soziopolitisches Panorama, in dem unterschiedliche Akteursgruppen – vom militanten Untergrund bis zu imperialen Bürokratien – innerhalb eines zunehmend eskalierenden Machtgefüges agieren. Die Erzählung fungiert damit als Fallstudie zur Entwicklung revolutionärer Bewegungen und zur Ambivalenz moralischer Entscheidungen im Kontext systemischer Gewalt.
Die zweite Staffel, die unmittelbar in die Handlung von Rogue One überleitet, hebt narrative undcharakterbezogene Elemente auf ein Niveau, das sonst vor allem mit hochwertigen HBO- Produktionen assoziiert wird. Figuren wie Luthen Rael (Stellan Skarsgård) sind gezwungen, in einer repressiven Diktatur moralisch prekäre Entscheidungen zu treffen; Mon Mothmas (Genevieve O’Reilly) Anklage gegen Imperator Palpatine im Senat erinnert in ihrer rhetorischen Zuspitzung an
Konflikte aus der klassischen Tragödie. Obwohl Andor vor der zweiten Präsidentschaft Donald Trumps entstand, lässt sich die Serie deutlich als Kommentar zu den soziopolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre –
insbesondere in den USA – lesen. In dieser Hinsicht knüpft sie an George Lucas’ ursprüngliche beiden Filmtrilogien an, die explizit als Spiegel des jeweils dominanten politischen Zeitgeistes konzipiert waren. Dadurch gestaltet sich die Serie, wie schon Rogue One, deutlich ernster als bspw. vergangene Disney+ – Produktionen aus dem Franchise und spricht so ein Publikum an, welches sich bisher mit Qualitätsserien wie The Wire oder Game of Thrones begeistern ließ.
Selbst bin ich mit der ersten Star Wars-Trilogie aufgewachsen, die zu dem prägenden Franchise meiner Kindheit und Jugend wurde. Darüber habe ich meine Masterarbeit verfasst und auch meine erste Monographie publiziert. Natürlich bot mir mein berufliches Umfeld die Gelegenheit, mich mit einer Vielzahl ‚ernsthafterer‘ Themen auseinanderzusetzen; umso mehr begrüßte ich
jedoch, dass auch Star Wars im Serienformat eine vergleichbare Ernsthaftigkeit erkennen lässt.

Was ist besser als Reality-TV? Eine Freundin, die beim Reality-TV arbeitet von Saskia Prinzler

Um Reality-TV kommt man kaum noch herum (und wenn Sie das hier lesen und sagen, Sie hätten noch nie ein Reality-Format konsumiert, denken Sie nochmal darüber nach, was eigentlich alles zur Bandbreite des Reality-TVs zählt). Ebenso wenig kommt man darum, dass man sich beim Zuschauen fragt: Was ist hier eigentlich wirklich real (englisch ausgesprochen) und was nicht? Wie wir mit den Wirklichkeitsbezügen, der Performance von Authentizität und unserem Verhältnis zum Gezeigten umgehen, ist schon seit Jahren ein beständiger Teil der Forschung. Serien wie UnREAL (2015-2018), Podcasts mit Reality-Show-Kandidat:innen und ihre Profile auf Social Media haben die Produktionswirklichkeiten in den letzten Jahren auch einer breiten Masse immer zugänglicher gemacht. 

Als Tierärztin fällt es einem vermutlich schwer, einen hinkenden Hund zu sehen, ohne sich zu fragen, was er hat, als Köchin eine angebrannte Sauce zu essen, ohne darüber nachzudenken, was in der Küche schiefgelaufen ist – und als Medienwissenschaftlerin schaffe ich es nicht, 45 Minuten Entertainment zu rezipieren, ohne das Wort “Wirklichkeitsbezüge” zu benutzen. 

Dieses Jahr war es nun soweit und ich konnte einen Abgleich schaffen zwischen all dem Vorwissen, Halbwissen sowie größtenteils gar nicht vorhandenen Wissen und der Realität von Reality: Mein Freundeskreis traf sich zum gemeinsamen Streaming eines deutschen Formats, denn eine von uns arbeitete an dessen Produktion mit. Sie war mehrere Wochen live auf Kreta dabei und verbrachte täglich Stunden damit, die Teilnehmenden und die Verführenden (Kenner:innen wissen jetzt, von welchem Format ich spreche) zu beobachten und das Beobachtete in die Kategorien Reality-worthy oder nicht zu sortieren. Wir konnten all die brennenden Fragen (“Trinken die wirklich die ganze Zeit Alkohol”, “Wie riecht es in einem Schlafsaal mit 20 Teilnehmern“ und “Gibt es tatsächlich keinen Kontakt nach außen”) stellen, bekamen Antworten auf diese und noch so viele mehr. Seitdem weiß ich, dass mehr real ist, als ich den Formaten vorab unterstellt hatte, dass ich mir noch sicherer bin, keine geeignete Kandidatin für diese zu sein und dass es vermutlich im Jahr 2025 kaum einen besseren Ort für Digital Detox gibt als eine kameraüberwachte Villa, in der mir mein Handy, meine Bücher, meine Musik und alles Ähnliche abgenommen wird.  

Aus reiner wissenschaftlicher Neugier muss ich das zu meinem Streaming- und Fernsehmoment 2025 küren. Ganz persönlich begreife ich es als Highlight, da sich das aufgeregte vor dem Beamer Zusammenscharren, das in die Küche herüber gerufene “Beeil dich, es hat gleich fertig gebuffert und die Werbung ist schon vorbei”, die geteilten Snacks und das Dazwischenreden angefühlt haben, wie sich Fernsehen mit dem Bruder an einem Samstagvormittag angefühlt hat, als Streaming mir noch kein Begriff war. 

NOlympics in Almania – Eine Fernsehgeschichte von Michaela Wünsch

Zum Ende des Netflix-Jahres 2025 und mitten in Umfragen und Debatten über einen möglichen zukünftigen Standort von olympischen Spielen in Deutschland und nach der Verkündigung eines Waffenstillstands in Gaza, wurde der zunächst für das Kino 2024 produzierte Film September 5 (D 2024, Regie: Tim Fehlbaum) auf Netflix veröffentlicht. Der Film erinnert, dass die olympischen Spiele in München 1972 nicht nur Gutes hervorgebracht haben: Diese angeblich positiven Effekte, wie der Bau von Spielstätten, die für zukünftige Spiele noch wunderbar genutzt werden könnten, wurden angebracht, um für den Standort München zu werben, kaum erwähnt wurde in der deutschen Berichterstattung über die Olympiabewerbungen das katastrophale Ereignis während der Spiele in München, die Ermordung und Entführung von Mitgliedern der israelischen Mannschaft durch die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September mit Unterstützung von Neonazis aus dem Umfeld der Nationalsozialistischen Kampfgruppe Großdeutschland, in deren Verlauf 11 der 14 israelischen Olympiateilnehmer getötet wurden, 9 davon bei einer gescheiterten Befreiungsaktion der bayerischen Polizei. Einer der Ermordeten war Amitzur Shapira, ein Großvater des deutsch-israelischen Comedian Shahak Shapira, der 2019 mit der Sendung Shapira, Shapira auf ZDFneo zu sehen war und bei seinen Therapiesitzungen, die er als Open Therapy online postete. Dort war auch Thema, dass sein anderer Großvater mütterlicherseits der einzige Shoa-Überlebende der Familie war. Shahak Shapiras Bruder war der „FU-Student“, der im Winter 2024 von einem propalästinensischen deutschen Kommilitonen in Berlin-Mitte verprügelt wurde. Viele nicht so positive Effekte rund um die olympischen Spiele in München sind also gut (fernseh-)medial dokumentiert und der Film September 5 erzählt neben den Ereignissen am 5. September auch ausführlich von den fernsehtechnischen Bedingungen und Möglichkeiten im Jahr 1972 als zum ersten Mal olympische Spiele live übertragen wurden. Es geht um das Team des Senders ABC, das ganz in der Nähe des olympischen Dorfs ein Studio hatte und live von den Ereignissen berichtete, die angeblich mit 900 Millionen von mehr Zuschauer:innen verfolgt wurden als die Mondlandung. Jetzt sieht das Publikum, wie damals Fotos und 16-mm-Filme vor Ort für die Sendung entwickelt und live übertragen wurden, Satellitenplätze reguliert werden, und der vom Attentat geflohene Tuvia Sokolsky, aus dem israelischen Studio nebenan geholt und live interviewt wird, bis der Sendeplatz an CBS geht und das Interview unterbrochen werden muss und anschließend eine ABC-Mitarbeiterin ein ABC-Logo auf einen Übertragungsbildschirm klebt, um die Bilder weiterhin für sich zu beanspruchen. Gezeigt wird auch, wie ein Mitarbeiter des Teams sich (wie die Terroristen) als Sportler verkleidet, um Filmrollen hineinzuschmuggeln und so in das Dorf unbehelligt rein- und rausspazieren kann. Ebenfalls sehen wir, wie das ikonisch gewordene Bild von einem der Attentäter als Einstieg in die Berichterstattung von ABC entstand.

Dieses Bild wurde im November auf der Tagung „Institutional (Self-)Critique. On Art, Teaching and Caring in Times of Urgency“ an der Universität der Künste Berlin von Pary El-Qalqili als stereotype mediale Repräsentation von Palästinensern als Terroristen kritisiert. In New York initiierten Mitarbeitende des Kinos Alamo Drafthouse eine Petition gegen die Aufführung des Films, da es sich dabei um zionistische, imperialistische und rassistische Propaganda handele. (Weder die Petition noch El-Qalqili erwähnen übrigens die Tat als solche, noch die Opfer). https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLScCmEGRRLkiJQPQaafFp6M9hsN8jAil3Tl3U2uUFBeESYP2iw/viewform?pli=1

Von anderen Seiten wurde der Film für die Thematisierung medialer Verantwortung und Ethik gelobt, zum Beispiel in Bezug auf die verfrühte Verbreitung von ABC der Falschnachricht des Regierungssprechers Conrad Ahlers, die Geiseln seien befreit worden oder dass zuvor die Terroristen durch die Nachrichtenbilder vor einem anderen gescheiterten Befreiungsversuch gewarnt worden seien und sich medial inszenieren konnten. Der Film zeigt aber auch durch die Perspektive auf das amerikanische Filmteam, zu denen auch viele jüdische Mitarbeiter:innen gehören, das Entsetzen über die Tat, über die Entscheidung die Spiele fortzuführen und das Desinteresse von Spieler:innen anderer Nationen, der deutschen Polizei und Politik an dem Schicksal der israelischen Mannschaft und ihrer Angehörigen, die es deshalb noch 2022 ablehnten, zu einer Gedenkfeier nach Deutschland zu reisen. Kurz, der Film zeigt auch, dass die BRD für die ersten olympischen Spiele in Deutschland nach den olympischen Nazispielen in Berlin 1936, noch nicht bereit war und wohl bei wieder aufkommender Geschichtsvergessenheit und -revision (Erziehung nach Gaza) auch zukünftig nicht sein wird, sollte Israel bis dahin nicht sowieso von sämtlichen internationalen Fernseh- und Medienereignissen ausgeschlossen worden sein.

Sonntag, 27. Juli 2025 von Markus Kügle

Abb.: ZDF: Frauen-EM 2025: Das Finale England vs. Spanien [Livestream/Highlights], in: ZDF Play, o. D., online unter: https://www.zdf.de/play/livestream/uefa-frauenfussball-europameisterschaft-live-livestream-highlights-100/uefa-frauen-em-2025-england-spanien-finale-livestream-100 [Zugriff: 09.11.2025].

Fernsehmoment? Streaming-Moment? Nennen wir es doch ganz einfach: Televisiver Moment. Ein solcher lässt sich – sofern wir denn bereit sind, Marshall McLuhan zu folgen (vgl. 1964, S. 370ff.) – als ‚taktil-auditiver‘ begreifen. Denn ‚fernes Sehen‘, gleich welcher Distributionalität auch immer, ist eben kein primär visuelles, sondern zuvörderst ein auditives Medium – eines, das seine volle Wirkung eben nicht ‚über‘ distanziertes Sehen (hinweg), sondern durch körperlich empfundene Wahrnehmung hindurch zu entfalten imstande ist. Und ein solches ging seit jeher nicht über den Ton hinweg, sondern oszillierte stets mit ihm (ebd.). Es erzeugt sodann aus der Ferne Formen der Nähe, ein urplötzliches Mitschwingen, eine hochenergetische Spannung zwischen Klängen, Körpern und Bildern. Die audiovisuelle Oberfläche des Fernsehens ist dafür auch glatt und ‚kühl‘ genug gehalten, um emotional maximal aufgeheizt werden zu können.

Nichts vermittelt diese so ungemein paradoxe Qualität „televisueller Präsenz“ (vgl.: Virlio, 1990, S. 20ff.) so eindringlich wie der Abpfiff internationaler Sportveranstaltungen – jene Zehntel einer Sekunde, worin sich Klang, Bewegung und daraus resultierender Affekt zu einer einzigartigen, weil eben allseits körperlich spürbaren Geste verdichten. Insbesondere dann, wenn das Spiel zuvor in Verlängerung und schließlich ins Elfmeterschießen gehen musste. Einen solch raren Televisiven Moment haben wir in diesem Jahr erleben dürfen. Die Rede ist vom Finale der Fußball-EM. Gespielt hat England gegen Spanien, am Sonntag, dem 27. Juli, um 18:00 Uhr in Basel, also im Programm des Vorabends. 109 Minuten später stand es 1:1. Nach zwei Verlängerungen à 15 Minuten, plus drei Minuten extra, ertönte der Abpfiff sodann innerhalb der Hauptsendezeit. Und immer noch war nichts entschieden! Fünf Minuten später indes begann das Elfmeterschießen – und wiederum 7 Minuten danach geschah es: Die Stürmerin Chloe Kelly mit der Nummer 18 erzielte den Siegtreffer!

Abb.: ZDF-Kommunikation: UEFA Frauen-EM 2025: Großer Zuschauererfolg für ARD und ZDF, 28. Juli 2025, in: Presseportal ZDF (https://presseportal.zdf.de/pressemitteilung/uefa-frauen-em-2025-grosser-zuschauererfolg-fuer-ard-und-zdf) [Zugriff: 09.11.2025].

Ein in jeder Hinsicht phänomenaler Elfmeter war das im Übrigen, sporthistorisch denkwürdig. Auch in Spanien wird das niemand ernsthaft bestreiten können. Es war einer von denen, die zuerst oben an die Querlatte prallen, von dort aus zurückspringen, um schließlich doch noch ins Netz zu gehen. Und mit was für einer unmittelbaren Resonanz! In solchen Momenten spielt es auch keine Rolle mehr, wer da eigentlich auf dem Platz steht – ob England, Spanien oder Deutschland; ob Männer oder Frauen. Entscheidend ist nicht mehr, ‚wer spielt, sondern ‚dass‘, ‚was‘ und ‚wie‘ da gespielt wird. Denn Televisive Momente müssen auch über das Potential verfügen, Differenzen aufheben zu können. Rasse, Klasse, Sex, Gender, Nation – all das hat ins Hintertreffen zu geraten, angesichts der schieren Erfahrung kollektiven Erlebens. (Freilich nur als flüchtige, fernmedial vermittelte Erfahrung – kaum länger als ein Wimpernschlag. Und gewiss nicht für alle eine rundherum positive. Aber immerhin!)

Halten wir das für verrückt? Halten wir das für übergeschnappt? Frei nach einem anderen großen Televisiven Moment des Jahre 1954 lässt sich dazu nur sagen: „Ich glaube, auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben.“ Und mit einem Seitenblick auf die Einschaltquoten zeigt sich: Die Chancen dafür standen hierzulande überaus gut, denn „[m]ehr als sieben Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgten live im ZDF das Finale der UEFA Frauen-EM 2025“, was „einem Marktanteil von 33,2 Prozent“ entsprach (ZDF-Kommunikation 2025). Kurzum: Das waren unvergleichliche „depth interplay[s]“ (McLuhan a. a. O.), die wir hervorragend mitnehmen können – mit hinein ins nächste Jahr, wenn am 11. Juni die 23. Fußball-WM im Aztekenstadion in Mexiko City beginnt.

From Russia with … – vier Stunden aus Moskau von Yulia Yurtaeva-Martens

Zugegeben: Ich war mir nicht sicher, ob ich es zeitlich überhaupt schaffe. Der knapp vierstündige Livestream aus Moskau startete um 19 Uhr deutscher Zeit. Aber den Intervision Song Contest am 22. September 2025 zu verpassen wäre einer kleinen beruflichen Pflichtverletzung gleichgekommen.

Seit Jahren forsche ich zu Intervision – jenem fast vergessenen Netzwerk sozialistischer Rundfunkanstalten, das unter anderem eine Reihe von Song Contests initiierte und austrug, die jedoch historisch stets im Schatten des Eurovision standen. Einige Male musste ich in den vergangenen Jahren und in verschiedenen Kontexten erklären, dass ich nicht über eine psychologische „Intervision“ schreibe, sondern über ein medienhistorisches Phänomen. Und dann, plötzlich, Wochen vor der Show in Moskau: Push-Nachrichten, internationale Medienberichte, Kolleg*innen und Freundeskreis, die mir dazu Links weiterleiten. Der Begriff „Intervision“ – sonst eher ein Spezialwort meines Forschungsalltags – waberte plötzlich durch die Medien.  Haben sich die knapp vier Stunden über die Forschungsperspektive hinaus gelohnt? Putins Grußwortzuschaltung zu Beginn der Show – anscheinend um den unpolitischen Charakter des Ganzen noch einmal zu betonen –, 22 Teilnahmeländer aus aller Welt, darunter Kuba, Südafrika, China und Katar, Lieder in mehr als zehn Sprachen, vier Moderator*innen mit unverkennbarem Pathos im Moderationsstil, ein technischer Kasus bei der Jury-Entscheidung, der die Auswertung kurz ins Stocken brachte – der „kulturpolitische Gegenentwurf zum ESC“ war jedenfalls nicht langweilig und stellenweise, etwa bei der Darbietung aus Kolumbien von Nidia Góngora, durchaus sehenswert. Als Gewinner setzte sich der vietnamesische Künstler Đức Phúc durch. 

Abb: Youtube NewsX Live (https://www.youtube.com/watch?v=NQEohHAkfoE&list=RDNQEohHAkfoE&start_radio=1) [Zugriff: 09.12.2025].

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