von Herbert Schwaab
Auf einem Tisch der artothek Hannover liegen bemalte Objekte aus Holz, die überdimensioniert Kassettenrekorder, Walkmans, Diktiergeräte und Gameboys aus den 1990er Jahren abbilden und damit auf ihre Weise Medientheorie betreiben. Es sind Werke des Künstlers Benjamin Binder. Sie sind weniger als Skulpturen gedacht, sondern sie lassen sich öffnen und sind dafür geschaffen worden, den Geräten, die sie nachempfinden, als eine Hülle zu dienen. Sie sind Ausdruck einer Faszination von Intimität stiftenden Medientechnologien, die die Körperlichkeit und Mobilität auditiver Erfahrungen und davon modellierte Identitäten verändert haben. Es handelt sich um Neurodiverse Medienkunst, eines von vielen Werken von Künstler:innen, die von dem Verein akku e.V. – Autismus, Kunst und Kultur seit 2010 in Ausstellungen präsentiert wurden. Eine kleine Ausstellung mit weiteren Werken neurodiverser Künstler:innen bot den Rahmen für einen Workshop der AG Fernsehen, der am 11. Und 12. Mai 2023 in Kooperation mit der AG Medienwissenschaft und Dis/Ability Studies durchgeführt und von Daniela Wentz, Robert Stock, Markus Spöhrer, Jana Zündel, Christine Piepiorka und Herbert Schwaab organisiert wurde.
Der Workshop versuchte verschiedene Perspektiven der Fernsehwissenschaft und der Disability Studies zusammenzubringen. Die Ausstellungsräume der von Anke Pauli geführten artothek, die sie uns dankenswerterweise für den Workshop zur Verfügung stellte, sollten mit Kunst von Menschen mit Autismus auf eine vermittelnde und damit auch mediale Dimension dieser Werke hinweisen, mit der sich das Anliegen dieses Workshops verbinden lässt, Neurodiversität nicht nurals Frage der (richtigen oder falschen) Repräsentation zu betrachten, sondern eine ästhetische Perspektive in den Blick zu nehmen, die Impulse für die Theorieführung setzt. Idealerweise sollte sich die Medien-, Kultur- und die Fernsehwissenschaft von dieser Auseinandersetzung inspirieren lassen. Wie wichtig es ist, Fragen der Repräsentation und der Ästhetik gleichermaßen zu bedenken, wenn Werke von neurodiversen Künstler:innen ausgestellt werden machte Anke Pauli in ihren begrüßenden Worten deutlich, als Einführung in die Ausstellung, die als Teaser für eine größere Ausstellung „Hauptwege und Nebenweg“ in Hannover desselben Jahres gedacht war (Impression zu der Ausstellung und ein Pdf des Ausstellungskatalogs findet sich unter https://artothek-hannover.de/aktuell/).
Mein Beitrag zur Einführung zum Workshop sollte die mediale Dimension dieser Kunst deutlich machen. Seit mehreren Jahren engagiere ich mich in dem Verein akku e.V. – Autismus, Kunst und Kultur und suche immer wieder nach Schnittstellen von neurodiverser Kunst und Medienwissenschaft. Ich erläutere diese Schnittstellen an einer Ausstellung, die ich zusammen mit dem Verein. und dem Lehrstuhl für Medienwissenschaft 2022 in Regensburg organisiert hatte. In der Ausstellung „Lesen, Schreiben und Erzählen“ (Impressionen und Material unter https://www.akku-ev.org/ausstellungen/) ging es darum, wie diese Kunst Systeme und Narrative schafft, eigenständige Symbolsysteme und -kosmen wie etwa in der Kunst von Andrea Rausch konstruiert, deren Werke um Sonne, nukleare Energie und außerirdische Wesen kreist, oder sich konkret wie die Werke von Christine Denck über eine Marionette als alter ego, die stellvertretend für die Künstlerin einen Instagram-Account verwaltet, sich mit Selfie-Kultur und die medientechnologischen Auswirkungen auf die Identitätsbildung beschäftigen. Bereits diese Ausstellung wurde von einem Symposium mit medienwissenschaftlichen Beiträgen unter anderem von Daniela Wentz und Christiane Heibach gerahmt. Mein Vortrag zum Ausstellen von neurodiverser Kunst insistiert auf einer Materialität und Realität ihrer Werke im Sinne der Kritik an der Repräsentationskritik des Neuen Materialismus. Dass die Kunst immer in irgendeiner Weise im Namen des Autismus spricht, lässt sich nicht vermeiden, dass sie sich aber dennoch nicht auf problematische Muster der Repräsentation reduzieren lassen muss, in der diese Kunst für einen anderen Blick auf die Welt stehen oder heroische Narrative individueller Überwindung neurodiverser Einschränkungen anbieten muss, soll hier deutlich werden. Die Kunst wirkt, vermittelt eine mit Autismus korrelierte, aber nicht auf sie reduzierbare Präsenz.
Der erste Beitrag am ersten Tag des Workshops von Marthe-Siobhán Hecke (Universität Bonn) machte deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Repräsentationen aber dennoch ein sehr wichtiges Feld der Medienwissenschaft darstellt, wenn sie die vielen Probleme und Fallstricke der Darstellung von ADHS in den Medien darstellt. Problematisch sind etwa Topoi in Diskursen, die von einem „Autismus light“ sprechen oder das Syndrom als ein (Luxus-)Problem weißer Kinder bezeichnen. Aus der Perspektive eines Menschen mit ADHS beschreibt sie, was es bedeutet, wenn in Narrativen ADHS-Figuren eine Nebenrolle spielen, für komische Momente sorgen müssen und in vielen Fällen eine klare Benennung fehlt, was Gegenstände wie die Percy Jackson Romane, die die Kondition von ADHS nicht verschweigen oder verklausulieren, zu willkommenen Ausnahmen mache.
Der Beitrag von Daniela Wentz (Bochum) zeigt nicht nur, wie stark sich die Beschäftigung mit Neurodiversität und Medienwissenschaft verbinden lässt, Neurodiverisität kann sogar Medientheorie initiieren, wie sie an der faszinierenden Arbeit von Fernand Deligny in den 1960er Jahren festmacht. Deligny versuchte nicht nur, alternative Formen der Therapie von neurodiversen Kindern, zum Teil sehr schwere Fälle von Autismus, zu etablieren, sondern auch eine ethnografische Methode der Erkundung der Erfahrungs- und Empfindungswelt dieser Kinder in seiner Filmarbeit zu liefern. So dokumentieren die faszinierenden Filme durch das einfache Beobachten, das sich einem Einordnung und Interpretieren verweigert, ein Koexistieren von Betreuer:innen, neurodiversen Kindern und Erwachsenen und Bewohner:innen in ländlichen Kommunen in den französischen Cevennen. Dieses Koexistieren ist tatsächlich eine radikale Form einer nicht eingreifenden Therapie, die auf das Verrichten alltäglicher Handlungen in den Landkommunen basiert, die in Delignys Ansatz das Vernakuläre verkörpern. In den Filmen sehen wir Menschen, die Tätigkeiten vollziehen, und wir sehen die neurodiversen Kinder, die „neben-agieren“, sich in ihren eigenen Tätigkeiten und Verhaltensformen verlieren. Diese nicht-eingreifende Form der Therapie entsteht in einer expliziten Kritik am in den 1960er Jahren populären Behaviourismus und verhaltenstherapeutischen Ansätzen. Delignys Therapien als Lebensform sollen eine Nähe, aber keine Intimität herstellen. Hier vermischen sich neue Ansätze der Therapie mit neuen Modellen des Zusammenlebens in Kommunen, Kritik an dem gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung, Ästhetiken des Dokumentarfilms und der Ethnografie, die eine besondere Form der Beobachtung hervorbringen und eine Präsenz des Neurodiversen, eine gestische Sprache des Autismus, zu erzeugen vermögen, sowie philosophische Konzeptionen des Alltäglichen als das ‚Ultragewöhnliche‘. Dass Delignys Arbeit nicht nur beeindruckt und mit den Filmen ästhetisch hochinteressante Zeugnisse einer Alternative der Behandlung von Menschen mit Behinderung liefert, sondern dieser Zusammenhang auch Impulse für die Theorie gesetzt hat, wird mit der Vermutung von Daniela Wentz deutlich, dass der Begriff des Nomadentums, der für Deligny wichtig gewesen sei, wohl seine Herkunft bei ihm finde und später von anderen Theoretikern des Post-Strukturalismus wie Deleuze aufgegriffen wurde.
Der Beitrag von Michaela Wünsch setzt sich im Anschluss daran mit der israelischen Serie En Therapie, die unter anderem als In Treatment auch in anderen Ländern adaptiert wurde. Sie zeichnet dabei nach, wie sich die Form der Serie und der wöchentlichen Therapiesitzungen angleichen, wie mit der Methode der freien Assoziation gearbeitet wird und die Instanz der Supervision zu einem Teil der narrativen, audiovisuellen Form der Serie wird, mit denen vielen Problemen der Übertragung und der problematischen Überschreitungen von Begehren und Therapie arbeitet. Fernsehwissenschaftlich interessant ist, wie durch eine kammerspielartige Konzentration auf die psychoanalytische Gesprächstherapie eine andere Ästhetik des Minimalismus im standardisierten Realismus des Quality TVs etabliert wird.
Mein Beitrag setzte sich mit Aspekten der Serialität, Transmedialität und Fankultur auseinander, die am Werk des neurodiversen Künstlers Stefan Wepil deutlich wird. Er ist seit seiner Kindheit ein großer Fan der Science Fiction Heftromanserie Perry Rhodan und konzentriert sich in seinem extrem reichen Werk darauf, die außerirdischen Welten des in über 3000 Folgen des Heftromans immer tiefer in den Kosmos eintauchenden Astronauten zu illustrieren. Der Beitrag nimmt die transmediale Welt der Perry Rhodan Romane, die von den Produzierenden und den Fans als Perryversum beschrieben wird, zum Anlass, über Architekturen transmedialer Systeme nachzudenken. Dabei wird nicht nur deutlich, wie geordnet diese Welt gestaltet wird, mit dem eindeutigen Tentpole der Verlagsseiten, den Erstauflagen, dem Reentry neu bearbeiteter Folgender Serie, den vom Verlag autorisierten Ablegern und den offiziellen Fanmagazinen, die als übersichtliche Formen transmedialer Extensionen dafür sorgen, dass der Neu-Einstieg in die Serie möglich ist und sich eine Fankultur und -gemeinschaft frei zu entfalten vermag. Der Beitrag versucht hier die These zu formulieren, dass es sich im Vergleich mit Fernsehserien, deren Angebote zur Ko-Autorschaft häufig eher symbolisch bleiben oder nicht ernst-gemeint sind, mit Perry Rhodan eine Art barrierefreie Transmedialität möglich wird. Stefan Wepil illustriert nämlich nicht nur Welten, die von wandelnden Autorenkollektiven der Serie erdacht werden, er wird indem Fan-Fiction Ableger Dorgon selbst zum Autor. Dort beschreibt er auf der Fanseite detailliert die Physik, Biologie, Demografie und Biologie dieser Welten, die in den Fanromanen nur sehr rudimentär erfasst werden. So lassen sich die Werke von Stefan Wepil nicht nur als Auseinandersetzung mit Serialität betrachten, mit den endlosen Variationen, die es dem seriellen Kosmos erlauben, unendlich zu expandieren, sondern auch als Beispiel für Inklusion, die durch seine Ko-Autorschaft möglich wird und vielleicht auch einen Grund für das Interesse für diese Serie erklärt. Dass allerdings die Barrierefreiheit dieses Kosmos, der doch sehr stark von männlich kodierten Motiven und durch männliche Fans geprägt ist, in Frage gestellt werden kann, zeigt ein berechtigter kritischer Einwand in der Diskussion meines Beitrags.
Markus Spöhrer (Konstanz) erforscht in seinem Beitrag eine große Bandbreite an Computerspielen, die sich an Autist:innen richten. Dabei wird deutlich, dass die Spiele unterschiedlich stark auf Autismus Bezug nehmen, zum Teil Autismus nur mit NPCs (NonPlayer Charakteren) thematisiert wird. Es gibt allerdings auch Spiele, in denen das Neurodiverse eine größere Rolle spielt. So thematisiert etwa To the Moon Autismus, indem die Spielfigur als Wissenschaftler:in agiert, die ihren Autismus erkundet und in den Spiel Herausforderungen meistern muss. Als gelungenes Spiel wird Lily’s Garden vorgestellt, die mit einer der vielen diversen Figuren auch eine queere Autistin vorführt, ein quirky Charakter, der auf eine nicht-defizitäre, ermächtigende Weise positiv in der Autismus-Community diskutiert wird. Andere Spiele, wie Max: An Autistic Journey oder An Aspie Life versuchen durch das Gamedesign autistische Erfahrung zu verarbeiten und zu vermitteln. Aber das Potenzial dieser Spiele, Autismus auch zu einem Teil der Spiellogik werden zu lassen und mehr zu leisten, als damit die Erfahrung von Autismus pädagogisch zu vermitteln, bleibt dann doch, wie in dem Beitrag deutlich wird, eher begrenzt.
Robert Stock (Berlin) versucht die Überschneidungen von ökokritischen Ansätzen und Naturaktivismus und von Neurodiversität anzusprechen, anhand von einigen Vertretern dieser Formation, die wie Chris Packham, der Dokumentation für die BBC macht, ihren Autismus in dieser Arbeit thematisieren. Der Beitrag will deutlich machen, wie eine Auseinandersetzung mit der Natur Affinitäten zu einer von Autismus geprägten Wahrnehmung hat, etwa wenn auf den Film Kes von Ken Loach (1969) hingewiesen wird, dessen Hauptfigur in seinem Interesse für einen Falken, den er trainiert, neurodiverse Züge zeigt. An dem Naturaktivisten und Schriftsteller Dara McNulty und dessen Diary of a Young Naturalist wird deutlich, wie sich aus einer besonderen Wahrnehmung eine immersive Perspektive auf die physische Realität der Natur ergibt, die sich im Schreiben über sie ausdrückt, was etwa auch die Perspektive von Songs of a Gorilla Nation ist. Robert Stock zeigt, dass sich dieses Eins-werden mit der Natur als Ausrichtung auf das Sinnlich-Materielle der Natur in Ansätze des Neuen Materialismus übersetzen lasse. Dies ist ähnlich wie der Beitrag von Daniela Wentz ein Zusammenhang, in dem Neurodiversität Impulse für die Theorie liefern oder einen Anschluss an aktuelle Debatten der Medienökologie und des Transhumanismus findet.
Fragen der Repräsentation beschäftigen die letzten beiden Beiträge. Yulia Yurtaeva-Martens (Babelsberg) setzt sich mit der Darstellung des Tourette-Syndroms und mit medialen und televisuellen Mechanismen auseinander, die mit diesem Syndrom zusammenhängen. So fällt auf, dass es viele Möglichkeiten der Selbstrepräsentation von Menschen mit Tourette-Syndrom gibt, die eigene YouTube-Kanäle betreiben und wie im Fall von Jan Zimmermann und Stella Lingen auch Crosspromotion betreiben und damit eine eigenständige Tourette-Unterhaltungskultur hervorbringen. Dies hat mit einer ästhetischen Komponente von Tourette zu tun als überaus sichtbare, audiovisuell interessante Beeinträchtigung, die gerade deswegen kritisch zu betrachten ist, weil das klinische Syndrom häufig in Konflikt steht mit den prominenten Fällen von Tourette wie Jan Zimmermann. Die Frage nach der Popularisierung von Tourette, die in dem Beitrag aufgeworfen wird, ist gekoppelt an die Popularität eines Syndroms, das sich für Repräsentationen besonders gut eignet und bei einem Kanal wie dem von Jan Zimmermann interessanterweise nicht immer im Mittelpunkt stehen musste.
So problematisch diese Selbst-Repräsentation einer unterhaltsamen Beeinträchtigung ist, so führt sie doch vor, was im Beitrag von Monika Weiß (Marburg) eine Rolle spielt, was es bedeutet, sich selbst repräsentieren zu können, was im Fall einiger Formen von Beeinträchtigungen immer noch die große Ausnahme darstellt. In ihrer Auseinandersetzung mit der Darstellung von Down Syndrom im Fernsehen macht sie an zwei dokumentarischen Formaten deutlich, welche Unterschiede daraus resultieren, ob eine Erzählung als heterodiegetisch zu betrachten sei, das heißt, es wird über einen Menschen mit Down Syndrom berichtet, oder ob sie homodiegetisch den Menschen in den Formaten nicht nur eine Stimme, sondern Kontrolle über die Erzählung gibt, was an einem Vergleich zweier Fernsehformate, einer Episode von 37 Grad und einer Episode von Einfach Mensch herausgearbeitet wird. Allerdings wird hier betont, dass beide Formate sich darum bemühen, über eine Einordnung in behinderungstypische Narrative der Überwindung widriger Bedingungen hinaus zu gehen und zum Beispiel auch die Menschen als Teil von Gemeinschaften und als inkludiert zu beschreiben, was das Potenzial von Fernsehen offenbart, Behinderung zu normalisieren.
So sind zwar die letzten, aber sonst nur wenige Beiträge auf Fernsehen direkt eingegangen, auch wenn es nahe liegen würde, die vielen aktuell bei Plattformen wie Netflix zu sehenden Serien über neurodiverse Menschen, zu thematisieren. Allerdings konnten gerade durch diese Kooperation von Kunst, Fernsehwissenschaft und Disability Studies viele Aspekte des Medialen erfasst werden, sind interessante Schnittstellen offensichtlich geworden, die hoffentlich zu weiteren medienwissenschaftlichen Erkundungen des Neurodiversen oder neurodiversen Reflexion der Medienwissenschaft führen.

Hinterlasse einen Kommentar