Mach mich high!

Dealer brauchen Süchtige, Süchtige brauchen Dealer.

von Christine Piepiorka @christinepiepiorka

Unter dem Schwerpunktthema ABHÄNGIGKEITEN fand die GfM-Jahrestagung im September 2023 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn statt. Die AG Fernsehen war mit dem Panel Sichten und Suchten. Abhängigkeiten im Fernsehdiskurs vertreten und hat verschiedene Perspektiven und Fragen im Zapping-Format präsentiert.

Abhängigkeit, Sucht, Dealer, Süchtige. Ist all das in der Fernsehlandschaft und damit zwischen konvergenten Medien, dezentralen Strukturen (durch Streamingdienste) und dem Zuschauer als Adressat zu finden?

Oder anders gefragt aus einer Perspektive der Produzenten als Anbieter und den Zuschauer_innen als Nachfrager: Besteht hier in Teilen ein Verhältnis von Dealern und Süchtigen? Macht Fernsehen seine Zuschauer_innen abhängig und agiert somit auch als deren Dealer? Und was ist dabei der Stoff der so begehrt ist?

Ein paar impulsartige Gedanken hierzu sollen Annäherung an diese Fragestellung verschaffen: 

Eine Welt von Highs, Gramms und Trips

Fernsehproduzenten erschaffen eine Welt von möglichen Suchtfaktoren, indem sie ökonomisch agieren und Content produzieren und damit die Medienrezipient_innen adressieren: Sie erschaffen durch ihre Mechanismen und Strategien Suchtpotential. Da wird eine Welt von Serieninhalten angeboten, die verteilt wird auf die Serie selbst (die Highs), auf kleine Teile auf Plattformen (Gramm) und lange Strecken von Inhalten (Trips). Die Annahme, dass Medien, Fernsehen und Serien sowie Social Media süchtig machen, existiert schon lang. Zum Teil sehr lang. Sind Serien mit all ihren Inhalten auf diversen Plattformen ein Stoff, der süchtig macht und Zuschauer_innen zu Süchtigen?

Gibt es eine Wahl? Adressierung als Ausgangspunkt einer Abhängigkeit

Zuschauer_innen, User_innen, Leser_innen, Spieler_innen, Prosumer, Prosuser, Publikum: Auf diese heterogenen Etiketten wird stets referiert, wenn Rezipient_innen in einem fernsehspezifischen Umfeld beschrieben wird. Doch sind es nicht auch Süchtige und Dealer, die hier beschrieben werden können? Fernsehen und vor allem Fernsehserien, die ihren Inhalt räumlich über diverse Plattformen hinweg verteilen, können süchtig machen. Dealer, hier hauptsächlich die Serienschaffenden, bieten an und adressieren. 

Denn eine Narration ist gekennzeichnet durch Auslassungen, Unterbrechungen und Verweisen, auch bekannt als gaps (vgl. Dablé 2012; Fiske 1987 & 1992). Diese Leerstellen nehmen einen Zuschauer an und konstruieren ihn; sie adressieren selbst eine Leerstelle – einen Adressaten. Es besteht eine Interdependenz zwischen den Strukturen des Medientextes und den rezeptiven Prozessen des Zuschauers (vgl. Piepiorka 2011, 130). Dieser ist in der Ästhetik der Medientexte durch ein großes Spektrum an Hinweisen und Handlungsanweisungen eingeschrieben. Diese können sich finden im Serieninhalt selbst aber auch in Happen, Gramm und Snippets, die auf Social Media veröffentlicht werden und sind damit eingeschrieben in eine aktuelle serienspezifische Ästhetik.

Die Adressierungen sind dabei aber als Möglichkeiten und nicht zwingend zu verstehen. Dabei entsteht ein individueller Umgang mit dem Content einer und zur Serie: Gehen Adressaten auf die Möglichkeit ein? Sie haben die Wahl. Die These wäre: Gehen Adressat den Möglichkeiten nach, nutzen immer mehr Content, der vielfältig und überall zur Verfügung stehen, kann es Ausgangspunkt für eine Sucht nach Content werden.

Es entstehen Abhängigkeiten auf inhaltlicher, rezeptiver, kulturpraktischer Ebene, welche durch das habituelle Verhalten der Medienrezipient_innen wahrnehmbar ist: Die Jagd nach dem nächsten High.

Dealen und Suchten

„This is the idea of like: I like it, give me more.“ So beschreibt Natasha Lyonne (Schauspielerin) das Verhalten der Adressaten von Serien auf Netflix. Und dann wird mehr produziert von dem was gewollt wird. Fernsehformate und Medienrezipient_innen befinden sich in einer Interdependenz, in der die einen dealen und die anderen süchtig sind.

Serien, die für das Bingewatching produziert werden, sind kompakt. Lyonne beschreibt die Logik von Netflix, die ein „neues Raum-Zeit-Kontinuum“ für sie aufmacht: „da wird konsumiert in doppelter Geschwindigkeit und das Bingewatching wird noch schneller und intensiver.“ Je höher das Verlangen nach dem Content ist, umso schneller und intensiver wird konsumiert. Tendenzen zur Sucht könnten hier erkennbar werden: Der Streamingdienst selbst veröffentlicht ab welcher Folge eine Serie „süchtig“ mache.

Focus Online 2015

Kann aber das Fernsehen existieren ohne diese Interdependenz? Offenbaren sich zwingende Mechanismen für den Fortbestand von Fernsehinhalten?

Mach mich high.

Das Fernsehen kann als ein Dealer, der seine Ware präsentiert und anbietet, verstanden werden. Es bietet Inhalte sowie transmedial auf Medien verbreitete Snippets an, welche die Adressaten möglichst an die Inhalte binden soll. Es dealt mit seiner Ware, versucht die Zuschauer_innen süchtig zu machen nach den Inhalten zu einem Format. Diese werden adressiert, können wählen, ob sie der angebotenen Sucht folgen und “Gramms” konsumieren: Bingewatching für einen langen “Trip”, Social Media für ein kurzes “High”. Das Verlangen ist da.

Dealer und Süchtige, Fernsehen und Zuschauer_innen brauchen sich gegenseitig, nur so entstehen überhaupt Süchte oder Deals.

Sucht jedoch ist ein gesundheitliches Thema: Krankenkassen identifizieren dies eindeutig als Problematik. Beschreibungen zu den Gefahren der Seriensucht und Tips wie man diese überwindet werden auf deren Internetseiten angeboten.

AOK Online 2023

Doch die Fernsehlandschaft agiert so, die Adressat_innen wählen: “Mach mich high” meinen die Süchtigen – Dealer brauchen Süchtige, Süchtige brauchen Dealer. Die Adressierung von Nutzer_innen durch süchtigmachende Dealer ist eventuell eine Möglichkeit einen Teil der Fernsehe-/Streaming-/ und Social Media- Landschaft im Kontext von Serien zu beschreiben.

Quellen:

AOK Online (2023): Binge-Watching. Online: https://www.deine-gesundheitswelt.de/balance-ernaehrung/binge-watching (Abruf 12.12.2023).

Dablé, Nadine (2012): Leerstellen transmedial: Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld: transcript

Fiske, John (1992): The Cultural Economy of Fandom. In: The Adoring Audience. Hg. v. Lisa Lewis. New York: Routledge, S. 30–49

Fiske, John (2010 [1987]): Television Culture. London/New York: Routledge

Focus Online (2015): Netflix verrät: AB dieser Folge sind Sie süchtig nach Top-Serien. Online: https://www.focus.de/kultur/kino_tv/drth-netflix-verraet-ab-dieser-folge-seid-ihr-einer-serie-verfallen_id_4978729.html (Abruf 11.09.2023).

Piepiorka, Christine (2011): Lost in Narration – Narrativ komplexe Serienformate in einem transmedialen Umfeld.Stuttgart: ibidem Verlag

Piepiorka, C. (2017). Lost in Time & Space – Transmediale Universen und Prozesshafte Serialität. Hamburg: Tredition

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