Fernseh(sehn)süchte.

Back to the Roots? Sehnsucht als Motiv und Antrieb des Fernsehens.

von Kim Carina Hebben @kimhebben

Unter dem Schwerpunktthema ABHÄNGIGKEITEN fand die GfM-Jahrestagung im September 2023 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn statt. Die AG Fernsehen war mit dem Panel Sichten und Suchten. Abhängigkeiten im Fernsehdiskurs vertreten und hat verschiedene Perspektiven und Fragen im Zapping-Format präsentiert.

Aufmerksamkeitsökonomien des Begehrens/ Sehnsucht nach Serialität

Die süchtig machenden Strukturen hinter Plattformen wie YouTube oder Twitch erinnern an das grundlegende Begehren nach Fortsetzungsnarrativen und sich wiederholenden, vertrauten Mustern, die in der Serialität des Fernsehens aufgegriffen, befriedigt und aufrechterhalten werden. Besonders Soap Operas wurde schon immer ein großer Sucht-Faktor zugeschrieben. Hier soll jedoch nicht die Sehnsucht nach rührseligen Momenten, sondern die nach Serialität, welche sich durch Wiederholung mit gleichzeitiger Variation kennzeichnet, betrachtet werden. Der spezifische „Rhythmus der Rezeption“, wie Modleski ihn für das Daytime-Fernsehen beschreibt, erzeugt einen Rahmen, an dem das weibliche Publikum sich nicht nur orientiert, sondern der den Alltag seiner Rezipient*innen spiegelt und gestaltet (vgl. ebd. 2001, 376). Der Aufbau des Daytime-Fernsehens aus Soap Operas, Quizsendungen und Werbung stimmt eng mit der Struktur der Hausarbeit überein (vgl. ebd. 385). Soap Operas dienen dabei als „Übungsinstrumente“ (ebd.), in denen die Hausfrau den „Zustand der Zerstreuung“ (ebd. 381) mit Unterbrechungen, Ablenkung und schubhaftem Arbeiten (vgl. 382) trainieren kann, in welchem sie ihre vielfältigen Rollen und Pflichten bewältigt. Modleski sieht, anders als Raymond Williams, den flow des Daytime-Fernsehens als Verstärkung des zentralen Prinzips der Unterbrechung. So definiert sie in Anlehnung an Williams die zentrale Fernseherfahrung als „eine zutiefst dezentrierte Erfahrung“ der Zerstreuung, welche zur Bewältigung des Alltags dienlich ist (ebd.).

Das Fernsehen sehnt sich nach Transformation.

Diesen Zustand der Zerstreuung finden wir auch in der konvergenten Medienlandschaft und den wechselnden Rollen ihrer Nutzenden wieder. In der anhaltenden Transformation des Fernsehens zeigen sich Abhängigkeiten zwischen konvergenten Medien, technologischen Innovationen und experimentellen Praktiken seiner Zuschauer*innen.

Besonders post-televisuelle Praktiken wie das Scrollens und das ziellose Wandern im Hypertext der Sozialen Medien nehmen, wie Modleski es für die Soap Opera und die Hausarbeit postuliert hat, kein Ende. Die kurzen Videos, Bilder und Beiträge auf Social Media Plattformen zirkulieren in einem noch schneller getakteten Flow. Gleichzeitig zeigen sie Muster von Wiederholung und feste Strukturen, die eine Regelmäßigkeit versprechen. Sie bedienen sich der Programmatik des Fernsehens, erweitern diese jedoch um diverse Endgeräte und mediale Praktiken. Die Social Media Fragmente liefern durch die Ausschüttung von Dopamin kurzweilige Belohnungen, wie hier im Video am Beispiel von YouTube gezeigt wird:

Dopamin: YouTube, Arte 2023

Um dieses High aufrecht zu erhalten oder wieder zu erlangen, verweilen die User*innen auf den Plattformen. Wie auch Soap Operas mit ihren Cliffhangern, schieben die sich kontinuierlich aktualisierenden Newsfeeds Lösungen und Höhepunkte endlos hinaus (vgl. ebd. 384). Und genauso wie Daytime-Fernsehen Lösungen für Miniprobleme bietet, indem zum Beispiel ein Handlungsstrang beendet wird oder eine Werbung das Geheimnis weißer Wäsche verrät, so arbeiten die Algorithmen der Plattformen daran, den Nutzer*innen Content vorzuschlagen, der ihnen „Lust, Motivation und Sucht“, also Dopamin, liefert. Gleichzeitig lösen beide den Wunsch nach ‚Mehr!‘ aus (vgl. Arte: Dopamin).

Im Spiel offenbaren sich die Sehnsüchte des Fernsehens.

Diese kleinen Belohnungen bieten eine Antwort auf den stetig ansteigenden Druck unserer Leistungsgesellschaft. Privat und beruflich wird immer mehr von den Menschen verlangt, sodass das kurze High und die Interaktion auf Social Media Plattformen eine kurzweilige Flucht aus dem Alltag bieten. Dieses Empfinden ist allerdings paradox, da durch das stundenlange Abhängen in den Sozialen Medien Zeit verloren geht.

Diese Oppositionen wohnen dem Spiel inne. Im Spiel vergeht Zeit schneller oder langsamer, die Spieleden bewegen sich im Rahmen von Regeln und Grenzen, gleichzeitig sind ihre Entscheidungen frei. Es gilt das ‚Einmal-ist-Keinmal‘ und der Wunsch nach schier endloser Wiederholung und dem ‚Noch-Einmal‘ (vgl. Walter Benjamin 1991/ Sybille Krämer 2007). Die Zuschauer*innen sehnen sich nach festen, wiederkehrenden Strukturen und möchten gleichzeitig freie und vielfältige Entscheidungen treffen. Im Wechselspiel aus Gewohnheit und Experiment zeigt sich ein Remediatisierungsprozess, der auf Optimierung abzielt (vgl. Hebben 2021). So wie die Soap Operas den zerstreuten und aufgabenreichen Alltag der Hausfrau spiegeln und strukturieren, so trainieren die hochfrequentierten Fragmente des Post-Televisuellen Leistungs- und Multitaskingfähigkeiten, die im aktuellen Leistungsdiskurs abverlangt werden. Gleichzeitig zeigt sich dabei das Verlangen des Fernsehens immer besser, schärfer und innovativer zu werden. Es ist selbst experimentelle Versuchsanordnung (vgl. Keilbach/ Stauff 2011) und durchläuft in einem anhaltenden Zustand aus Wiederholung, Variation und Optimierung seiner Strukturen, Formen und Inhalte eine fortwährende Transformation. Dabei macht es keinen Halt vor Mediengrenzen oder Umgangsweisen, sondern wird zum allgegenwärtigen Begleiter und treibt dazu an, an seiner Transformation teilzuhaben.

Quellen

Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung“, in: Tiedemann, Rolf/ Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Band VII, Frankfurt 1991, S. 350–385.

Hebben, Kim: „Spiel in Serie. Black Mirror: Bandersnatch“, in: Newiak, Denis/ Maeder, Dominik/ Schwaab, Herbert (Hrsg.): Fernsehwissenschaft und Serienforschung. Theorie, Geschichte und Gegenwart (post-)televisueller Serialität, Wiesbaden 2021, S. 285-314.

Keilbach, Judith/Stauff, Markus: „Fernsehen als fortwährendes Experiment. Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums“, in: Elia-Borer, Nadja/ Sieber, Samuel/ Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld 2011, S. 155–181.

Krämer, Sybille: „Die Welt – ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbarkeit“, in: Niehoff, Rolf/ Wenrich, Rainer (Hrsg.): Denken und Lernen mit Bildern. Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung, München 2007, S. 238–253.

Tania Modleski: „Die Rhythmen der Rezeption. Daytime-Fernsehen und Hausarbeit“, in: R. Adelmann/ J.-O Hesse/ J. Keilbach/ M. Stauff/ M. Thiele (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Konstanz 2001, S. 376-387.

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