Von Anne Ulrich (@anneulrichtv)
Wer wie ich in den 2000er Jahren begann, sich wissenschaftlich mit dem Fernsehen auseinanderzusetzen, hatte es von Anfang an mit einem medienwissenschaftlich besonderes ergiebigen Untersuchungsgegenstand zu tun: An kaum einem anderen Medium ließ sich so trefflich studieren, wie ein Massenmedium auf den Druck durch neue Distributions- und Angebotsstrukturen reagierte, seinen Status als Leitmedium verlor und sich an veränderte Seh- und Nutzungsgewohnheiten anpasste. Viele einst definierende Merkmale verloren an Bedeutung, obwohl sie neben den neuen Formen weiterhin ein Schattendasein führten: die Abhängigkeit der Zuschauer*innen von einem Programm etwa, das sich nicht jederzeit anhalten, vor- oder zurückspulen geschweige denn zeitunabhängig aufrufen ließ, oder die Frustrationserfahrung einer Werbeunterbrechung an dramaturgisch ausgeklügelten Momenten im Programm.
Neuerdings, so scheint es wenigstens, werden gerade solche Merkmale jedoch wieder salonfähig. So führte der Streamingdienst Netflix etwa entgegen allen anderslautenden Ankündigungen[1] im November 2022 ein preisreduziertes, dafür jedoch werbefinanziertes Abonnement ein, bei dem die Nutzer*innen mit bis zu vier Minuten Werbespots pro Stunde rechnen müssen.[2] Davor hatte derselbe Streamingdienst den „Play Something“- bzw. „Surprise Me”-Button eingeführt, der die Nutzer*innen von ihrer Choice Fatigue erlösen sollte. (Der Button wurde Anfang dieses Jahres allerdings still und leise wieder beerdigt – so überwältigend war die Choice Fatigue anscheinend doch noch nicht.) Und nun erleben Streaming-Nutzer*innen sogar die Rückkehr der Programmzeitschrift. Moment mal, eine Programmzeitschrift fürs bezahlte On-Demand-Fernsehen?

Schon seit Oktober 2020 erscheint Streaming, eine Zeitschrift der Funke Mediengruppe, die den „kompletten Überblick über die Streamingangebote“ zu geben verspricht. Zunächst vierteljährlich, nun alle zwei Monate kann man für 4,90 Euro am Kiosk oder im Netz eine Hörzu fürs Streamingzeitalter erwerben. Auf 112 Seiten werden die neusten Serien, Filme und Dokumentarfilme von neun Streamingdiensten und vereinzelt auch den öffentlich-rechtlichen Mediatheken besprochen, darüber hinaus gibt es zur besseren Orientierung „Ankreuzplaner“ und im Sommerheft Juni/Juli 2023 zusätzlich noch den sogenannten „XXL-Planer“ mit den „140 besten Serien von A bis Z“. Damit ist Streaming eine der ersten Programmzeitschriften, die ausschließlich Angebote von Streamingdiensten bespricht und die an der Tageszeit orientierten Programmtafeln des linearen Fernsehens komplett hinter sich lässt (ein weiteres Angebot ist das zweimal jährlich erscheinende Stream It! des Hubert-Burda-Verlags, das seit 2022 ebenfalls gebündelt Serien und Filme bespricht).
Orientierungshilfe im Schlaraffenland
Streaming erscheint in einer Auflage von 150.000 Exemplaren und wendet sich laut Angaben einer Vermarktungsagentur an „die besser verdienenden Männer & Frauen ab 35 Jahren“, die dem linearen Fernsehen offensichtlich entwachsen, der Idee eines Printmagazins aber immer noch zugewandt sind. Besser verdienen sollte auf jeden Fall, wer alle im Magazin besprochenen Streamingdienste abonnieren wollte, was auf mindestens 77 Euro im Monat käme. Eine Erhebung von 2020 zeigte indes, dass Serien-Streamer*innen durchschnittlich zwei Abonnements hatten[3] – was, wenn es sich um die Marktführer Prime Video und Netflix handeln sollte, ein Angebot von über 9.300 Filmen und 3.400 Serien ergäbe. Grund genug, auf eine Orientierungshilfe zurückzugreifen, der man (im Gegensatz zu den Nutzeroberflächen der Streaminganbieter) nicht zuletzt genau diese Daten entnehmen kann. Streaming unterstützt seine Leser*innen also nicht nur dabei, den Videoabend zu planen, sondern viel früher schon bei der Auswahl eines geeigneten Streaming-Abos oder beim Wechsel in ein neues televisuelles Schlaraffenland.
Klar sind diese Informationen nicht exklusiv – die Leser*innen könnten sich einen vergleichenden Überblick über Streamingdienste auch im Internet selbstständig zusammensuchen und die konkreten Angebote auf Webseiten wie werstreamt.es erfragen. Für den Fall, dass sie dies tun, produziert das Magazin gemeinsam mit genau dieser Webseite sogar den Podcast All you can stream. Warum also eine Zeitschrift? Ist dieses Medium nicht genauso tot wie das klassische Fernsehen? Ganz im Gegenteil: Programmzeitschriften sind in Deutschland traditionell ein wichtiges Zeitschriftensegment, sogar das reichweitenstärkste überhaupt – noch vor aktuellen Magazinen wie dem Spiegel oder Frauenzeitschriften. Selbst knapp ein Drittel der 30- bis 39-Jährigen greift regelmäßig zu Programmzeitschriften oder entsprechenden Supplements von Tageszeitungen. So scheint es nur folgerichtig, für den Streaming-Markt auch ein ähnliches Angebot zu entwerfen – mit dem Unterschied, dass sich in diesem die Inhalte nicht mehr an Wochentagen und Uhrzeiten orientieren.

Mit dem bereits erwähnten „Ankreuzplaner“ wird zumindest optisch an die eng bedruckten Programmseiten angeknüpft wie auch an die Praxis, beim Studium des Fernsehprogramms die sehenswerten Stücke mit einem die Individualität des eigenen Geschmacks markierenden beherzten Kreuzchen zu versehen. Ansonsten beherrschen indes meist doppelseitige, reich illustrierte Einzelkritiken das Heft, ergänzt um Sammelrezensionen (wie etwa die Titelstory der Juni/Juli-Ausgabe von 2023 zu neuen Serien und Filmen aus dem Action-Genre) oder Porträts von Showrunnern. Das Magazin setzt beim Cover und der Bebilderung seiner Rezensionen zwar auf die Anmutungsqualität von Hollywood- und Serienstars, verzichtet ansonsten jedoch auf den für Programmzeitschriften üblichen Starkult: keine Homestorys, keine Exklusiv-Interviews, keine Bilderstrecken von glamourösen Festivals. Auch Rätsel, Kochrezepte, Beziehungsratgeber und saisonale Bastelanleitungen sucht man vergebens – so gesehen ist Streaming ein fast schon puristisches Rezensionsmagazin. Mit den vier Bewertungskriterien „genial, gelungen, geht so, grausig“ wird eine schnelle Orientierung gegeben; die Filmkritiken selbst nehmen anständige und flott formulierte Einordnungen und Bewertungen vor. Aktuelle Mainstream-Inhalte werden bevorzugt, aber auch zum Anlass genommen, eine Reihe von älteren Filmen zu empfehlen – etwa unter dem Titel „Die 10 besten Filme mit Hugh Grant“.
„Affirmative Programmdarstellung“
Eine Parallele zu klassischen Programmzeitschriften zeigt sich allerdings in der Priorisierung von Unterhaltungsformaten, besonders deutlich an der Tatsache, dass der Besprechung von Dokumentationen insgesamt nur fünf Seiten eingeräumt werden. Davon entfällt allein eine reich bebilderte Doppelseite auf die als „gelungen“ bezeichnete ‚Doku‘ „Victoria’s Secret: Angels and Demons“ (Paramount+). Die Kategorie „grausig“ wurde im Juni/Juli-Heft übrigens überhaupt nicht vergeben; äußerst selten auch „geht so“ – das Heft lädt mit seinen vorwiegend positiven Kritiken also nicht zuletzt dringend dazu ein, die neuen Serien auch tatsächlich zu konsumieren.
Auch darin liegt eine Kontinuität. Der Programmpresse wurde schon in den 1970er Jahren eine spezifische Nähe zum Fernsehen nachgesagt sowie eine „affirmative Programmdarstellung“.[4] So schrieb etwa Peter-Matthias Gaede in einem Aufsatz namens „Aufgaben und Nutzen der Programmzeitschriften“ im Jahr 1979: „Weil ihr Publikum mit dem des Fernsehens identisch ist, eignet sich gerade die Programmpresse zur Popularisierung genau jener Programmsparten, die sich schon heute gewinnträchtig vermarkten lassen und in welchen sich die private Unterhaltungsindustrie mit eigenen Produktionen […] schließlich selbst etablieren will.“[5] Aus dieser Perspektive wäre also auch eine Programmzeitschrift für Streaming nichts anderes als ein verlängerter Arm der Streaming-Industrie. Dagegen brachte ein Redakteur des Gong 1981 hingegen vor: „Ziel ist es nicht, den Bürger zum pausenlosen Fernsehkonsumenten zu machen, Ziel ist der gezielte Fernsehkonsum, Ziel ist der kritische Fernsehbürger, der sich des gewiß faszinierenden Mediums bedient.“[6]
Mit Blick auf diese gut vierzig Jahre alte Debatte lässt sich das Potential einer Programmzeitschrift für Streaming-Dienste recht gut herausschälen: Es bietet die Chance, einigermaßen unabhängig von den Interessen der Streaming-Dienste Empfehlungen auszusprechen, von denen die Zielgruppe gar nicht wusste, dass sie sie suchten und die ihnen aufgrund der sich selbst verstärkenden personalisierten Algorithmen der Streamingdienste auch gar nicht untergekommen wären. Außerdem kann die Zeitschrift durch den Blick über den Tellerrand der bereits abonnierten Dienste hinaus immer wieder zum Wechsel der Abonnements anregen, was einer Monopolisierung des Angebots insgesamt entgegenwirkt. Streaming mag sicherlich weit davon entfernt sein, uns zu ‚kritischen Streaming-Bürgern‘ zu erziehen. Aber es ist vielleicht ein allererster klitzekleiner Schritt.
[1] Vgl. Andreas Gebesmair, „Streamen mit Werbeunterbrechung“, POP. Kultur und Kritik, Nr. 22 (2023): 77, https://doi.org/10.14361/pop-2023-120112.
[2] Vgl. die unternehmenseigenen Angaben auf https://help.netflix.com/de/node/126831 (29.08.2023).
[3] Vgl. Matthias Birkel u. a., „Pay-Video-on-Demand in Deutschland. Markt und Nutzung kostenpflichtiger Streamingdienste“, Media Perspektiven, Nr. 1 (2020): 23f.
[4] Vgl. Herbert Honsowitz, Fernsehen und Programmzeitschriften. Eine Aussagenanalyse der Programmpresse (Berlin, 1975), 16.
[5] Peter-Matthias Gaede, „Aufgaben und Nutzen der Programmzeitschriften“, in Fernsehen und Hörfunk für die Demokratie. Ein Handbuch über den Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Jörg Aufermann, Wilfried Scharf, und Otto Schlie (Opladen, 1979), 471.
[6] Dirk Altemann, „Über den guten Geschmack des Publikums“, Medien 3, Nr. 1 (1981): 18.


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