@anneganzert guckt Dschungelcamp. Nicht ganz unschuldig. Ein Gedankenzapping zu schambehaftetem TV-Konsum.
Januar im deutschen Privatfernsehen heißt: „Willkommen zurück im Dschuuungel driiiin“, wie Sonja Zietlow nicht müde, wird in die Kamera zu trällern. Zwar mittlerweile mit Moderationskollege Nummer 3, aber nichtsdestotrotz ist und bleibt „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ erfolgreich seit 16 Staffeln. Nur im Heimatland der Sendung, dem vereinigten Königreich gab es bisher mehr Staffel. Den Start der Staffel 2023 verfolgten 4,26 Millionen Menschen (im linearen Fernsehprogramm), und erreichte damit fast 30 % Marktanteil – ziemlich beeindruckend? Oder doch einfach ziemlich aussagekräftig darüber was sonst so läuft?
Eine These im Feuilleton Anfang Januar dazu ist: den Start schauen so viele Leute, weil die Hauptgeste (auf Social Media durch Hashtags wie #ibes gut nachzuvollziehen) vieler Zusehender ist: „Ich kenne die nicht? Wer bitte ist das?“ Jetzt aber der Knaller: Ende Januar strahlt RTL das Finale von IBES aus und erreicht noch mehr Menschen als mit dem Staffelpiloten: 4,49 Millionen Zuschauer:innen. Das lässt sich dann nicht mehr mit „ich will nur schauen, wer da einzieht“ erklären. Scheint ja doch zu faszinieren, Spaß zu machen und zu unterhalten. Und warum auch nicht. Was daran nur immer wieder auffällt: die Scham, die dem Konsum solcher Sendungen, die landläufig ja auch als „Trash TV“ bezeichnet werden, anhaftet.
Wieso ist der Begriff, der sich in unserer Sekundärliteratur nebst der schlichten Beschreibung des Formats als Realty oder Scripted Realty TV einreiht, der des „guilty pleasure“. Und warum wird das sowohl in der Berichterstattung als auch der akademischen Reflexion verwendet, wenn doch Schuldgefühle eigentlich davon abhängen, von wem man umgeben ist und demgegenüber man meint sich rechtfertigen zu müssen. Guilty Pleasures sind Aktivitäten oder Dinge, die man gerne tut oder konsumiert, obwohl man sich bewusst ist, dass sie gesellschaftlich nicht akzeptiert oder moralisch fragwürdig sein können. Gerd Hallenberger erklärt: „Die moderne, stark medienbezogene Bedeutung hat sich erst in den letzten 50 Jahren durchgesetzt. Davor gab es den Ausdruck zwar schon seit über 100 Jahren, er bezog sich aber auf anderes – etwa auf Bordellbesuche. Bevor in Deutschland der Begriff „Guilty Pleasure“ geläufig wurde, gab es bereits verwandte Bezeichnungen für spezifische popkulturelle Vorlieben, wobei dem „peinlichsten Lieblingsstück“ allein dadurch eine Pionierrolle zukommt, dass in Musikzeitschriften der 1980er‑Jahre davon regelmäßig die Rede war.“
Zunächst einmal gibt es viele Gründe, warum wir uns für „guilty pleasure“ Fernsehsendungen entscheiden. Vielleicht lieben wir die Spannung und das Drama, die in Reality-Shows oder Seifenopern präsentiert werden, oder wir genießen die Schönheit und den Glamour von Modenschauen oder Talentwettbewerben. Vielleicht sind es auch einfach die Geschichten und Charaktere, die uns faszinieren und uns in eine andere Welt entführen. Unabhängig davon, was uns an diesen Sendungen fasziniert, fühlen wir uns oft unwohl, diese Interessen zu teilen, weil wir befürchten, von anderen verurteilt oder als oberflächlich und ungebildet abgestempelt zu werden. Daher also schuldig / schuldbewusst und nicht einfach Genuss?
Wieso gibt es bei so etwas ‚banalem‘ wie dem Fernsehen guten und schlechten Genuss? Warum ist der Tatort ok, aber Love Island zum Schämen? Warum gibt es das Bedürfnis, das Bachelor-Schauen zu framen als „heimliches Vergnügen“ oder „reuiges Vergnügen“ (im deutschen trifft das irgendwie alles nicht 100% den Punkt wie ich finde, aber ich lasse mich gern anderweitig überzeugen) Vielleicht liegt es also neben gesellschaftlichen oder sozio-normativen Konstrukten also doch daran, dass wir irgendwie wissen, dass die Bloßstellung der Kandidat:innen, die reißerischen Cuts usw. moralisch fragwürdig sind. Und vielleicht braucht es einen marker wie ‚guilty pleasure‘ um uns daran zu erinnern, dass diese Unterhaltung auf Kosten anderer geschieht. Interessant ist aber auch, das das scrollen auf Sozialen Medien selten mit diesem Begriff belegt ist, obwohl diese doch dem Fernsehen schon lange den Rang abgelaufen haben Menschen dazu zu ermutigen, sich zu blamieren, um im Fernsehen zu erscheinen, oder das Privatleben anderer als Unterhaltung zu betrachten.
Die verschiedenen Forschungsperspektiven zu diesem Themenkomplex berühren Sozialtheorie, Fan Studies, Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das Bilden von In- und Outgroups usw. Jennifer L. Polzner (2010) und andere haben analysiert, welche Effekte Reality TV und Trash TV auf die Zusehenden haben können – und diese sollen an dieser Stelle auch nicht geschmälert werden, formen sie doch wichtige Teile des öffentlichen Diskurses über Gender, Race, Class, und „Taste“ (und ich meine damit keine Kochshows). Genau daran knüpft sich übrigens auch der Appell, speziell diesen Formaten auch Raum in Seminaren einzuräumen, ganze Reihen zu Datingshows oder dem schlimmen Terminus des „Unterschichtenfernsehens“ anzubieten. Nicht nur das Quality TV kritisch hinterfragen sondern auch sein Gegenstück. Das Internet listet unermüdlich neu auf: Filme die man unbedingt NIE gesehen haben muss; Serien die man besser alleine schaut etc. und die Literaturliste zum Themenfeld ‚guilty pleasure TV‘ ist lang und wird durch Texte zu ‚trash TV‘, ‚camp‘, ‚bad television‘ und aus Disziplinen wie der Politik Wissenschaft, Anthropologie oder Psychologie noch ergänzt. Bei letztere gibt es z.B. Ansätze, die eine Luststeigerung durch das Empfinden von Schuld oder Scham vermuten.

Nicht zuletzt kann man die Idee des „Guilty Pleasures“ auch als ein Indiz für die Doppelmoral unserer Gesellschaft betrachten. Manche Menschen fühlen sich genötigt, ihre wahren Interessen und Vorlieben zu verstecken, aus Angst vor der sozialen Ächtung oder dem Verlust des Ansehens. So gesehen spielt selbst so etwas wie das Dschungelcamp dann eine Rolle für Prozesse der Spaltung und Polarisierung die eigentlich auf anderen Schauplätzen beobachtbar sind. Hier wie dort, will man vielleicht als Zusehende nicht mit den anderen über einen Kamm gekehrt werden. Dann hilft es eine so genannte Sarkasmus-Barriere zu errichten, sich ironisch und moralisch zu distanzieren. Ana Grujic vermutet: „Wenn ich sie [die Fernsehserien] als Guilty Pleasure bezeichne, fragt niemand weiter nach. Aber was passiert, wenn ich vor jemandem mal tatsächlich zu meinen Lieblingsserien stehe? Dann müsste ich vielleicht von mir erzählen oder – ganz uncool – von meinen Gefühlen sprechen.“ Und dort scheint die Hemmschwelle zu liegen, die der Einzug des Begriffs als Demarkationslinie stabilisiert.
Hallenberg nennt 3 Haltungen, die mit der Rede über das ‚reumütige Vergnügen‘ eingenommen werden können: „1) Ich weiß, es ist furchtbar, aber ich muss mir doch einen eigenen Eindruck verschaffen. 2) Ich weiß, es ist furchtbar, aber ich habe da halt eine Schwäche. 3) Es ist so furchtbar, dass es schon fast wieder gut ist.“ Hallenberger 2021) Hier scheint schon etwas durch, was in den Audience Studies immer mal wieder mit der Aussage eines Fokusgruppenmitglieds so zusammengefasst wird: „i enjoyed it … I enjoyed hating it“ (Collins 1993; Ang 2013) Ich würde daran anknüpfend Hallenbergers Liste noch 4) hinzufügen: „Ich schaue das als Beobachter:in zweiter Ordnung mit der notwenigen Distanz“.
McCoy und Scarborough sprechen von einer ’normative contradiction‘: wenn ich den ‚guilty pleasure‘ zugebe, kann ich eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Popkultur ziehen, und indem ich markiere, dass mir das bewusst ist, stelle ich mich über diejenigen Zusehenden, die die Sendung ohne diese Distanzierung konsumieren. Und vielleicht 5): Ich kokettiere mit der Grenze des Geschmacks und stelle mich als vermeintlich rebellierend dar. Denn: Auf Instagram gibt es 1,2 Millionen posts mit dem #guiltypleasure . Die User:innen scheinen sich primär für Süßigkeiten, Kaffee, oder anderen Konsum zu entschuldigen. Immer wieder tauchen aber auch Fotos von Musiker:innen, Buchtiteln und TV und Filmstills auf. Der Widerspruch, nicht nur anscheinend scham- oder schuldbehaftet zu konsumieren sondern auch darüber zu posten, damit es möglichst viele meiner Follower:innen mitbekommen ist etwas, was sich im transmedialen Verbund von Ausstrahlung/Stream und Social Media noch einmal neu konfiguriert und die Frage offen lässt: gibt es noch Sendungen, die tatsächlich heimlich geschaut werden? Und welche könnten das sein?
So bleibt dieser Fernsehmoment paradox: die Berieselung durch vermeintliche minderqualitative Sendungen ist irgendwie herrlich unproduktiv und zugleich kapitalistisch strukturiert sondergleichen. Ist unterhaltsam und potentiell gefährlich. „Guilty Pleasure“ dient dem Zeitvertreib und der Profilierung, ist schuldbehaftet und auf der Oberfläche distanziert. Eine Vexierbild für facettenreiche Diskussionen, dass sich im Zeitalter von social viewing und ubiquitärer Medienkonvergenz noch einmal neu anordnet.
Literatur
Ang, Ien. 2013. Watching Dallas: Soap Opera and the Melodramatic Imagination. New York/London: Routledge.
Collins Ava. 1993. Intellectuals, power and quality television. In: Cultural Studies 7/1: 28-45, DOI: 10.1080/09502389300490031.
Guilluy Alice. 2022. ‚Guilty Pleasures‘: European Audiences and Contemporary Hollywood Romantic Comedy. London UK: Bloomsbury.
McCoy, Charles Allan; Roscoe C. Scarborough 2014. Watching “bad” television: Ironic consumption, camp, and guilty pleasures. In: Poetics
47: 41-59.
Pozner Jennifer L. 2010. Reality Bites Back : The Troubling Truth About Guilty Pleasure Tv. Berkeley California: Seal Press.
Stratton, James. 2017. 100 Guilty Pleasure Movies. USA: Dog Ear Publishing.


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