Reality TV und das Spiel mit dem ›Insiders‹-Status

In der letzten Episode von „To be Continued“ stellte @christinepiepiorka fest: „Da ist es ja wieder das Fernsehen„. Ganz in diesem Sinne geht es @anneganzert dieses Mal um „Insiders“ und die Fortsetzung eines Genreklassikers, verschoben in Binging und Streaming, oszillierend an der Grenze von Fiktion und Projektion, und von Inklusion und Exklusion von Zusehenden.

Bienvenidos a ›Insiders‹

Im Oktober 2021 taucht auf internationalen Netflix Accounts eine spanische Show mit dem Titel „Insiders“ auf. “Zwölf Menschen glauben, es ins Finale eines Realty Show Castings geschafft zu haben. In Wirklichkeit werden sie bereits jetzt heimlich gefilmt. Es geht um 100.000 €.”, lautet die Beschreibung auf der deutschen Oberfläche der Streaming-Plattform. So weit, so trashy.

Beginnt sie die Pilotfolge, wird die Zuseherin doch durch ein ungewöhnliches Bild willkommen geheißen: Die aus internationalen Hits wie „Casa de Papel“ (Haus des Geldes) bekannte Schauspielerin Najwa Nimri Urrutikoetxea (kurz Najwa) erscheint in futuristischem Latex Outfit in schummriger Beleuchtung und adressiert zunächst nur die Zusehenden mit konspirativen Texten und mysteriösen Halbwahrheiten. Najwas Rolle als allwissende Erzählerin überlagert sich dabei mit der Ästhetik einer personifizierten, futuristischen KI à la der Darstellung von Microsoft’s Cortana in Halo etc.

Anders als zum Beispiel das notorisch skandalisierende Voice Over beim britischen Big Brother (if you know you know), liegt Najwas Fokus darauf, mit rauchig-monotoner Stimme Varianten des Einweihens, Täuschens und Überraschens der Zuschauer:innen auszuspielen. Fast bis zum Ende der ersten Staffel, wenn sie das erste Mal in die direkte Interaktion mit den Kandidat:innen der Show geht, bleibt sie auch in der dieser schauspielerischen distanzierten Rolle verhaftet. Die Reaktion der Teilnehmer:innen auf ihre Präsenz in der Sendung ist aber ein guter Indikator für ihre Popularität in Spanien – und Netflix nutzt hier den Umstand aus, dass die Plattform selbst Najwa’s internationale Bekanntheit eskaliert hat.

Die Kandidat:innen sind derartig stereotyp für erfolgreiches Reality TV ausgewählt, dass die Zusehenden mitunter das Gefühl beschleicht, sie selbst seien hier einem Spielzug der Sendung auf den Leim gegangen: „Challenge: wie standardisiert kann ich 2021 für das Reality TV casten?“ Man nehme ein paar durchgestylte Influencer:innen, extrovertierte LGBTQIA+-Menschen, plus pöbelnde Boys im Muscle-Shirt und zwei drei NormCores. Diese werden zusammen geworfen, bilden Cliquen, flirten, streiten, es gibt ein paar Challenges, Eliminationen und Abstimmungen und alle produzieren sich in unterschiedlichen Graden selbst. Reality TV eben. 

Wie für dieses üblich beziehen die Teilnehmenden nach und nach das Haus – doch angeblich ist dieses ihr privater Rückzugsort während nur in dem Bereich davor die noch zu erfolgenden Casting-Szenen gedreht werden. Tatsächlich wird das Haus – frei nach der Ikone Big Brother – aber umfasst von Kameragräben hinter venezianischen Einwegspiegeln und es ist kaum vorstellbar, dass die Teilnehmenden nicht von selbst drauf kommen. Wobei das Übermaß an spiegelnden Flächen dem vermuteten Narzissmus von angehenden Reality TV Kandidat:innen natürlich entgegenkommen mag. Dass sie es sich trotz allem nicht doch zusammen reimen verwundert aber dennoch… Ist also doch alles gescripted? Abgesehen davon, dass diese Frage so alt wie müßig ist im Kontext von Reality TV, kann man in den (vernichtenden) Kritiken zur Sendung lesen: “Ob das alles echt ist, wird von der Zielgruppe vielleicht gar nicht hinterfragt werden, es mag ihr schlicht egal sein.” Und ja, auch dieser semi-akademischen Lesart der Sendung ist das schlicht egal. Fragen möchte ich hingegen, wer ist hier gemeint mit dem Titel “Insiders”? Und welche Implikationen ergeben sich daraus in pandemischen Zeiten der Isolation für die Versprechen von Insidertum, Publikum, Fandom und Wissensgemeinschaften?

Outcast oder Insider?

Insiders – wir / die / ihr ? Natürlich sind die Kandidat:innen zunächst keine Insider (höchstens ‘inside’ des Hauses), da ihnen laut Sendungsprinzip entscheidende Informationen vorenthalten und sie gezielt getäuscht werden. Erst wenn sie eliminiert werden, weiht man sie in die Tatsache ein, dass schon vom ersten Moment die Kameras und das Spiel liefen. Dieser Moment der Erkenntnis wird zwar kurz den Zusehenden präsentiert, doch so richtig *click* macht es nur bei wenigen Kandidat:innen in diesen Szenen – vielleicht auch, weil sie eben doch ihre eigenen Schlüsse richtig gezogen haben, wie manche der stark zusammengeschnittenen Dialoge zumindest andeuten.

Der Cast der Sendung. Erkennt jemand, wer davon „eingeschleust“ wurde? Die Kommentarspalte ist offen

Als eine Spielerin zum Maulwurf gemacht wird, darf sie in besagten Kamerafluren umherstreifen. Leise, und ohne weiße Kleidung, schleicht Nicole durch die Gänge. Die Regisseurin Mamen Fernandez führt sie herum und gibt ihr ihre Aufgabe. Mamen ist allen Kandidat:innen scheinbar schon aus den ersten Castings (von denen aber nichts zu sehen ist) als Vertraute bekannt. Umso dramatischer die Szenen, als sie wegen einem angeblichen Datenleck ihren Job verliert. Jemand habe das „Totem“ fotografiert und dies per Chatnachricht versendet. Die Kandidat:innen sind schockiert, den Zusehenden erscheint Mamen hinterher und hinter den Kulissen weiterhin als Strippenzieherin – und sie ist in der Tat Regisseurin der Sendung. Zusätzlich treten die den Zusehenden als Schauspieler:innen ausgewiesenen, „Produzent:innen“ (‚das Kommitee’) auf. Diese führen die Casting-Aufgaben aus (wie das Erschießen eines Kaninchens [Platzpatronen]) und pushen die Spielenden in verschiedene Richtungen, triggern Handlungselemente und treiben “Insiders” voran. Letzte menschliche Akteurin ist eine Schauspielerin, die auf der Suche nach den “perfekten” Kandidat:innen als Persönlichkeitstrainerin auftritt.

Denn als ob diese menschlichen Akteur:innen, gecasted, gescripted und geblendet, in ihrem Zusammenspiel nicht genug wären, um eine variantenreiche Reiteration von Reality TV Klassikern zu erzeugen, bringt „Insiders“ noch einen Akteur ins Spiel: den “Algorithmus”. 

Darstellung des arbiträren Casting „Algorithmus“ von Insiders.

Vergleichbar mit existierenden Persönlichkeitsanalysetools wie Insights MDI oder dem “Level 10 Life” aus der Bullet Journal Szene wird für alle Kandidat:innen ihr Profil bestehend aus den Parametern wie Reaktivität, Emotionalität, Verletzlichkeit usw. präsentiert. Unter dem narrativen Vorwand, sie seien in der letzten Castingphase und Insiders suche den:die „perfekte:n Kandidat:in“ erhalten sie diese Werte und die Möglichkeit an diesen, bzw. sich zu arbeiten. Frei nach dem ubiquitären Prinzip der Selbstoptimierung beeinflusst das Wissen um die eigenen Daten und Zahlen das Verhalten der Spielenden. Allen ist die Reality Dramaturgie von Pärchen, Streit usw. bewusst, wie sehen sie Pläne und Allianzen schmieden und sich selbst zu Zurückhaltung gratulieren, um ihren “Reakitivität”-Wert zu senken. 

Die Zusehenden werden schnell eingeweiht: das Diagramm, die Software, die Messdaten – all das sei pure Erfindung. Regelmäßig sind ‘das Kommitee’ und die Trainerin dabei zu sehen, wie sie hinter verschlossenen Türen die Werte so anpassen, dass eine entsprechende Reaktion der Kandidat:innen ihren Interessen in die Hände spielen könnte. Immer wieder sieht man auch Dialoge, in denen die Spielenden darüber spekulieren, welche Daten erhoben werden und „wie zur Hölle“ sich ihre Kreise zusammensetzen. Doch wie sagt es Najwa so schön: „This is Insiders.” Dabei wird unter dem Deckmantel des Fiktionalen vollkommen ausgeblendet, welchen Effekt es auf die menschliche Psyche haben kann, wenn Autoritätspersonen wiederholt die eigene Persönlichkeit, Überzeugungen und das Verhalten kritisieren und in Frage stellen. Falls (!) die Kandidat:innen in der Tat nicht vollständig eingeweiht waren, ist dies der problematischste Aspekt der Sendung. Kandidat Fama ist aber der einzige, von dem die Zusehenden Szenen zu sehen bekommen, in denen er deswegen betroffen erscheint. Wovon sich viele viel berührter zeigen (oder gezeigt werden), ist das Social Media Experiment der dritten Episode: die Produzent:innen errichten ein geschlossenes Netzwerk und händigen Smartphones aus, mit welchen die Kandidat:innen posten und kommentieren können, wie sie es aus den Sozialen Netzwerken gewöhnt sind – sowohl offen als auch anonymisiert. Auf dieses haben die Zusehenden keinen Zugriff, sie erhalten nur kleine Einblicke durch Overlays im Schnitt der Sendung und Screenshots einzelner Posts und Kommentare. 

Endlich Inside – und schon wieder draußen

Nach Abschluss der letzten Castingphase, und einigen vollkommen unmotivierten Eliminierungen, und den ersten Eliminierungen startet die angebliche eigentlich Sendung. Diese sei dahingehend neu, dass sie die erste 24/7-Streaming Show von Netflix sei. Auch diese (vorgetäuschte) Tatsache beeinflusst das Verhalten der Teilnehmenden sehr: die Idee, keinerlei Schnitt könnte sie in besserem oder schlechterem Licht zeigen; ihre Familien und Freunde können dauerhaft auf Bilder von ihnen zugreifen etc. diskutieren einige von ihnen. Das eigentlich Interessante an der Zäsur ist aber nicht, dass deutlich zu sehen ist, wer sich vorher im Privaten emotional zurückhielt und wer nun für die Dauersendung darstellerisch aufdreht. Nein – das wirklich Interessante ist, dass für die zweite Phase ein Kinosaal im Haus geöffnet wird, in dem Najwa den Hausbewohnenden immer wieder Clips voneinander präsentiert, sie bloßstellt, Lügen enttarnt und Geheimnisse ausplaudern lässt.

Der oben beschriebene Blick hinter die Kulissen für Kandidatin Nicole, der in Vorgängerfranchises wie „Big Brother“ auch gerne den Zuschauenden präsentiert wurde und den Kandidat:innen zumindest abstrakt bewusst war, ist allerdings kaum sehenswert. Interessant ist aber, dass in der Schachtellogik der Sendung, dieses Filmmaterial direkt wieder eingespeist wird und dann – im Moment des Zusehens der anderen Kandidat:innen und des Enttarnen des „Inside-Jobs“ von Nicole plötzlich größere Relevanz erlangt.

Das „Kino“ im Haus in „Insiders“ während ein enthüllender Clip die Anwesenden einweiht.

Was sonst in Réunion Shows und im Paratext von Reality TV passiert, wird hier zum entscheidenden Spielmacher. Als Feedbackschleife gießen die Clips Öl in die lodernden zwischenmenschlichen Feuer. Die Abwesenheit regulierenden Personen wie Moderator:innen oder Studio-Publikum lässt Raum für große (und laute) Gefühlsausbrüche. In dem Bewusstsein, dass die Welt das alles schon live gesehen hat, während man selbst von bloß acht Anwesenden schmachvoll hintergangen wurde zeigen so manche Kandidat:innen ein beachtliches Repertoire an Schimpfworten, die dank Netflix in 9 Sprachen synchronisiert und 32 Sprachen untertitelt wurden. Im Guardian schreibt Yomi Adegoke  “in many ways, Insiders could have worked as a serious documentary about just how inorganic such contests have become.”  

The calls are coming from inside the house

Schlußendlich ist diese Form des Matrjoschka-Settings einer Reality-Show interessant, da es die Zusehenden gleichzeitig in- und exkludiert. Das Versprechen, “Insider” sein oder werden zu können, während alle notwendigen Informationen nur nach und nach zur Verfügung gestellt werden, schwebt als Figur des Entzugs über der gesamten Sendung. Die Sendung doppelt dieses Prinzip durch den Kinosaal mit den enthüllenden Clips, was die Kandidat:innen zu Zusehenden ihrer selbst macht. Die Verweigerung von nachvollziehbaren Spielregeln, sowohl für die Kandidat:innen als auch die Zusehenden, erhält einen Schwebezustand aufrecht, der als besondere Form der ‘suspense’-Erzeugung gelesen werden könnte. Wer schlussendlich gewinnt ist fast egal, zumal der Abstimmungsprozess willkürlich erscheint und wenig Gewicht hat. Doch der anschließende Cliffhanger für die zweite Staffel setzt Kandidatin Laura unmittelbar als Insiderin – und die Zusehenden als in diesen Twist eingeweiht. So ist Insiders eine Reflexion über das Fernsehen, sowohl die Produktion als auch die Tätigkeit, während es zugleich ein fortlaufendes Spiel von Eingeweihtsein, Zugangsbedingungen und Innen und Außen unter hierarchischen Bedingungen ist. 

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