Was vom Fernsehen übrig bleibt?

von Monika Weiß @drweissmo

Fernsehmomente – der Blog der AG Fernsehgeschichte und Television Studies in der GfM – Gesellschaft für Medienwissenschaft sendet wieder. Doch was schalten wir ein? Wie verstehen wir unsere Momente des Fernsehens? Das lineare Programm ist schon lange nicht mehr alles und der Kern des aktuellen Angebots. Delineares stellt nicht mehr nur die Ergänzung des Linearen dar, sondern hat einen eigenen Wert und dominiert vor allem den Streamingbereich. Das heißt aber auch, nicht nur die etablierten Macht- und Sendestrukturen des klassischen Fernsehens haben sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verändert, sondern auch die Nutzungspraktiken der Zuschauer*innen sowie unser Forschungsgegenstand. So lässt sich seit einiger Zeit beobachten, dass die Fernsehwissenschaft durchaus vom „Diskurs des Neuen“ (Köhler/Keilbach, S. 6) geprägt ist.

Die wichtige Gruppe der jugendlichen Nutzer*innen etwa partizipiert immer weniger am linearen Programmangebot der etablierten Fernsehsender, was ein Blick in die JIM-Studie 2021 Jugend, Information, Medien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zeigt. Internetangebote prägen die Medienbeschäftigung der Jugendlichen, dabei aber vor allem auch solche des delinearen Fernsehens: 66 % der 12- bis 19-jährigen Mädchen und 65 % der Jungen nutzen täglich oder zumindest mehrmals die Woche Streaming-Dienste wie Netflix, Amazon Prime oder Disney+, und sogar 75 % der Mädchen bzw. 85 % der Jungen Online-Videos auf Plattformen wie YouTube, was direkt nach WhatsApp und Instagram zur wichtigsten App der Jugendlichen gehört. Dass Fernsehen auch weiterhin hoch im Kurs der Jugendlichen steht (81 % der Mädchen und 79 % der Jungen) ist nicht verwunderlich, denn bei der Befragung wurde kein Unterschied gemacht, über welche Plattform bzw. ob lineares oder delineares Programm geschaut wird.

Quelle: JIM 2021

So ist es nicht erstaunlich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk hierauf reagiert hat und das eigene Angebot dahingehend erweitert. Mit funk.net, dem eigenen Content-Netzwerk, bieten ARD und ZDF ein delineares Online-Angebot, zugeschnitten auf die junge Nutzer*innen-Gruppe, welches auch auf YouTube zu finden ist. Eines der Flaggschiffe von Funk ist das Format MrWissen2go von Journalist Mirko Drotschmann, mit dem ich Mitte Dezember 2021 im Rahmen der Medienpraxis-Reihe Doing Audio-Visual Media des Instituts für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg ein Gespräch führen konnte.

Drotschmann verweist auf das Positive bei der Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, denn für ihn als Produzent und Kanalbetreiber unter funk.net bedeutet dies vor allem eine nicht zu unterschätzende Werbeunabhängigkeit bei gleichzeitig festem Produktionsbudget. Die mediale Konvergenz von Fernsehen und YouTube-Logik führt somit weiter zu Angeboten mit öffentlich-rechtlichem Standard, die aber nicht am jungen Publikum vorbei gesendet werden. MrWissen2go hat aktuell 1,68 Mio. und MrWissen2go Geschichte 853.000 Abonnenten (Stand 17.01.2022) auf YouTube.

Quelle: Kanal MrWissen2Go auf YouTube

Die angesprochene Konvergenz bewegt sich jedoch nicht nur einseitig. Nachdem Drotschmann bereits die Webvideos zur ZDF-Sendereihe Terra X moderierte, wechselte er innerhalb des Formats im Jahr 2020 zur Hauptsendung im ZDF (natürlich auch – ganz dem Prinzip des neuen Fernsehens verhaftet – in der ZDF-Mediathek delinear verfügbar). Bei der Arbeit für das lineare Fernsehen bleibe er jedoch seinem Erklärstil, den er in den Online-Formaten etabliert habe, treu. Es erfolge keine Umstellung auf ein gegebenenfalls älteres Publikum: „Ich bleibe MrWissen2go, der dann eben in Terra X als Moderator auftritt“.

Für die Zukunft des Fernsehens ist es also wichtig, Schritt zu halten mit den Entwicklungen und Angeboten der Video-Plattformen und auch von ihnen zu profitieren. Genauso wie umgekehrt, denn funk.net unterscheidet sich von kommerziellen Angeboten des Internets: Die Formate entsprechen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunkauftrag, sie sind frei von Werbung und Produktplatzierung und bieten gleichzeitig über die Finanzierung via Rundfunkbeiträge einen finanziell abgesicherten Raum für junge Medienmacher*innen (vgl. funk.net\Was ist funk?). Da ist doch der Vergleich zwischen öffentlich-rechtlichem und Privatfernsehen sehr augenfällig.

Quelle: funk auf YouTube

Was also bleibt vom Fernsehen übrig? Jede Menge, so meine ich. Anstatt linear bietet das Internet delineares Programm, auf das wir als Nutzer*innen individuell und losgelöst von Zeit- und Raumvorgaben zugreifen können. Doch im Kern lassen sich alte Strukturmodelle wiedererkennen. Denn die verschiedenen Möglichkeiten der Finanzierung führen zu einem vielfältigen Programmangebot. Und auch die Fokussierung der Zielgruppe bleibt weiterhin von Bedeutung. Was die Einschaltquote für das lineare Fernsehen ist, sind Abonnent*innen- und Klickzahlen sowie  Watchtime für YouTube-Kanäle und -Videos. Sie legitimieren einerseits die Finanzierung der Kanäle durch die öffentlich-rechtlichen Gelder bzw. sorgen für Werbe- und Sponsoringpartner*innen, und andererseits sind sie wichtig für den Algorithmus auf der Plattform.

Hierzu erklärt Drotschmann noch, dass mittlerweile tatsächlich die Watchtime das entscheidende Element für das Ranking der Videos ist und nicht mehr die Klickzahlen selbst. Denn oftmals sind es die Videos mit den höchsten Klickzahlen, die dann aber die geringste Watchtime bzw. eine hohe Ausstiegsquote aufweisen. Über die YouTube-Analytics kann von Produktionsseite genau eingesehen werden, ob Zuschauer*innen das gesamte Video ansehen oder an welcher Stelle sie ausgestiegen sind, was letztlich für folgende Videoproduktionen sinnvoll eingesetzt werden kann und damit ein besseres Auswertungs-Instrument darstellt als die einfache Einschaltquote beim linearen Programm.

Und noch etwas bleibt übrig: Obwohl grundsätzlich als delineares Angebot angelegt lasse sich doch eine weiterhin enge Verknüpfung von Veröffentlichung und Nutzung der Videos erkennen, so Drotschmann im Gespräch. Die Zugriffsstatistiken auf seine Videos der Kanäle MrWissen2go und MrWissen2go Geschichte zeigen stets die Peaks an den Veröffentlichungstagen auf. Also stellt sich die Frage, ob die Zuschauer*innen sich nicht doch einer gewissen Linearität – oder auch verlässlichen Konstante – im delinearen Angebot verschreiben? Dies zeigt sich ja ebenso bei der Veröffentlichung von neuen Serienepisoden oder Staffeln auf Streamingdiensten.

Soweit weg ist das doch garnicht von der regelmäßigen 20.15 Uhr-Tagesschau-Routine…

Hinterlasse einen Kommentar