Disco, ZDF und die Fernsehkultur

Mit dem Begriff der TV-Culture und dem gleichnamigen Titel seines Buches zum Fernsehen, machten John Fiske und mit ihm auch die Cultural Studies in den 1980er Jahren ein für allemal deutlich, dass Fernsehen ein Teil der Kultur ist, dass es nicht notwendig ist, zu unterscheiden und nur ein Fernsehen, das hochkulturellen Ansprüchen genügt, in den Bereich der Kultur einzuordnen. Die im Zeitalter des Post-TV verursachte Vervielfältigung der Sender, bei der die großen Sender eine immer größer werdende Schar von Sendekindern um sich versammeln, scheint dafür zu sorgen, dass diese Erkenntnis mittlerweile auch beim Fernsehen selbst ankommt. Der Sender ZDF-Kultur ist die perfekte Plattform für eine Auseinandersetzung mit der TV-Kultur. In seiner unkommentierten Ausstrahlung von alten Fernsehsendungen unter dem einfachen, aber auch widersprüchlichen Label Kult, erkennt das öffentlich-rechtliche Fernsehen an, dass es eine Fernsehkultur gibt. Durch die alltägliche Ausstrahlung alter Fernsehshows auf bestimmten Programmplätzen findet dabei so etwas wie eine Serialisierung von Nostalgie statt, die nicht nur eine alte Fernsehshow als Kuriosität in den Blick nimmt, sondern auch in einen vergangenen Fernsehalltag zurückführt und Aspekte des ursprünglichen Rezeptionskontextes aufscheinen lässt. Die Sendung Disco in der (relativ) leeren Zeit von 19h30 bis 20h15 zu schauen ist aus diesem Grund für mich fast so etwas wie eine Gewohnheit geworden. Diese Rezeption von Disco erinnert mich unmittelbar an meine Kindheit, als ich solche Programme nur deswegen sah, weil nichts anderes lief. Gefallen hat mir die Sendung genausowenig wie etwa die Hitparade, aber darum ging und geht es ja noch immer nicht beim Schauen von Fernsehen. Dadurch begegnen wir nicht nur einer fernsehhistorischen Absonderlichkeit, sondern dem Fernsehalltag selbst.Dem fernsehwissenschaftlichen Blick von heute erschließt sich nicht nur der (eigene) und der vergangene Fernsehalltag, es lässt sich auch besser eine ‚Komplexität‘ begreifen, die einzig das Produkt von Fernseh- und Populärkultur ist und eine eigenartige Mischung aus widersprüchlichen Sendeinhalten produziert. John T. Caldwell beschreibt in Televisuality frühe Sendungen der 1940er und 1950er Jahre als überaus heterogene Gegenstände, die in einem ‚textual struggle‘ gefangen sind, darum kämpfen und daran scheitern aus gegensätzlichen Programminhalten und Inszenierungsformen einen einheitlichen Gegenstand zu schaffen. Ein gutes Beispiel dafür ist die live gedrehte Science Fiction Serie Captain Video and the Video Rangers, das in der Mitte unmittelbar unterbrochen wird, um Teile eines Western-Serials zu zeigen, die mit dem Programm eigentlich nichts zu tun hatten. Zwanzig Jahre später, zu Beginn der 1970er Jahre scheint das Fernsehen in Deutschland noch immer in einem ‚textual struggle‘ heterogener Elemente gefangen sein.

So selbstverständlich sich das Fernsehen zu dieser Zeit als Leitmedium der Kultur und Gesellschaft begriffen haben mag, so ungeschickt und nach Form suchend geben sich noch immer viele Programme des Fernsehens. Die Heterogenität betrifft nicht nur das weite Feld der Popmusik von Rock über Disco-Musik bis Schlager. Auffällig ist, dass der Moderator Ilya Richter selbst mit dieser Kultur nichts am Hut zu haben scheint. Er bleibt unentwegt in seiner eigenen Welt. Neben seinen Moderationen bilden die von ihm geschriebenen Einspieler ein zentrales Element der Sendung, die in eine überaus anachronistische Operetten- und Kabarettkultur zurückführen. Undefinierte Unterhaltungsmusik in kleiner Bigband-orchestrierung untermalt die gereimten, lustigen, gesungenen oder in Sprechgesang dargebotenen Sketche, meist unterstützt von einem Gaststar, der selten viel mit der Discokultur zu tun hat, z.B. die die Kesslerzwillinge, die Musicalakteurin Heidi Brühl, die Ansagerin Hanni Vanhaiden, Berti Vogst. (Ich fand die Einspieler schon als unkritischer, kindlicher Zuschauer in den 1970er Jahren eher quälend als komisch und es wäre das Objekt einer interessanten Rezeptionsstudie, zu untersuchen, ob im damaligen Studiopublikum oder im Fernsehpublikum irgendjemand die Einspieler lustig fand. Irgendwie erscheint mir die Frage danach, ob eine Sendung unterhaltend war, bezogen auf das frühe Fernsehen eher irrelevant, es war einfach Zeit, die mit dem Fernsehen verbracht wurde, Fernsehen wurde nicht konsumiert, sondern akzeptiert.) Diese Musik und der Gesang, die vor dem Dreh aufgenommen wurden, sind ähnlich steril wie die karge Ausstattung in engen Fernsehstudio, die nicht nur durch die Kulissen den Eindruck von Künstlichkeit erwecken und mit primitiven videografischen Effekten arbeiten. Auf jeden Fall bewegen sich diese Sketche, auch wenn sie häufig Parodien der deutschen Fernseh- und Populärkultur liefern, in einem anderen popkulturellen Kosmos als die Sendung selbst, sie bleiben, auch weil sich deren Gestaltung in den 10 Jahren der Ausstrahlung dieser Sendung, nicht wirklich verändert hat, unpassend.

Fremd erscheinen auch die unterwürfigen Verbeugungen, die Ilya Richter nach der Ausstrahlung der Sketche in alle Richtungen des klatschenden Publikums macht. Aber diese einer klassischen Bühnenkultur entstammende Höflichkeit (die nicht dasselbe ist wie die intime und beiläufige Adressierungsform des Fernsehens) hat wohl einen ähnlichen Grund, wie die unpassenden Sketche und die Präsentationsform der Bands, Interpretinnen und Interpreten. Die Sitzgelegenheiten (eine orangene Plastiksitzgarnitur), das DJ-Pult und Dekors (diverse im Raum platzierte Fernsehbildschirme) sind hochmodern und geben im Kontrast zu den Sketchen tatsächlich die Discokultur und den Nimbus, den sie in den 1970er Jahren hatte, wieder. Der Aufbau des Raums verzichtet darauf, Hierarchien aufzubauen und einen von Publikum abgetrennten Bühnenraum zu schaffen. Die Interpreten werden häufig inmitten des Publikums positioniert, die enge Bühne lässt so wenig Platz, dass die Bands häufig die gewohnte Ordnung aufgeben und beispielsweise das Schlagzeug in den Vordergrund rücken. Regelmäßig werden bei den Teenagern besonders beliebte Bands am Ende ihrer Darbietung durch das Fehlen einer Abgrenzung vom Publikum durch ihre Fans überrannt. Auch der Moderator ist auf einer Empore so platziert, dass sich nicht nur vor ihm, sondern auch hinter ihm noch Publikum befindet. Es wird konsequent darauf verzichtet, einen übermächtigen Starstatus herauszustellen.

Auch in der Hitparade werden solche Hierarchien dadurch unterlaufen, dass sowohl Publikum als auch Moderator der Kamera zugewandt sind und dieses sich dadurch oft im Bild befindet. Diese ‚demokratische’ Inszenierung der Interpretinnen und Interpreten, ebenso wie die ‚braven‘ Beiträge von Ilya Richter fanden wohl ihre Ursache darin (wenn dem Wikipediaeintrag zu der Sendung zu glauben ist), dass die Sendung Teenagerkultur auch für ältere Zuschauer kompatibel erscheinen lassen sollte. Die Inszenierung und die Inhalte der Sketche, die auch gelegentlich auf die Hochkultur verweisen, sollen zudem auch als Möglichkeit begriffen worden sein, auch das junge Publikum an die ‚Kultur‘ heranzuführen. Versöhnung um jeden Preis ist und eine Abscheu vor Nischenbildung ist das Programm des Unterhaltungsfernsehens der 1970er und 1980er Jahre.

Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Sendung so beschreiben lässt, ich bevorzuge es allerdings auch, die Gründe für die Hervorbringung dieser widersprüchlichen Mischung zurückzudrängen und diese Sendung als magische Hervorbringungen der Fernsehkultur zu betrachten, als hochkomplexes, faszinierendes, heterogenes Ensemble, als Produkt von kaum nachvollziehbaren Entscheidungen und produktionstechnischen Ressourcen. Ähnlich wenig nachvollziehbar erscheinen die bizarren Entscheidungen, die einen Sender schaffen, der einfach nur das alte Fernsehen der Shows wiederholt. Vielleicht macht sich ein Fernsehwissenschaftler, der meiner Generation entstammt, tatsächlich Gedanken darüber, wie Fernsehkultur vermittelt werden kann, vielleicht geht es nur darum, wie einige Kommentare unterstellen, Zeit mit billigen Inhalten zu füllen. Ich kann mich selbst und andere nur dazu ermahnen, diese Ressource zu nutzen und über die Heterogenität früherer Fernsehprogramme nachzudenken, sich mit der Frage zu beschaffen, ob es ein Merkmal bestimmter Fernsehepochen war, Populärkultur auf ‚demokratische‘ Weise zu vermitteln, oder auch zu erforschen, wo genau die kulturellen Quellen für diese eigenartig unkomischen, anachronistischen Sketche zu finden sind. In diesem Fall, aber fast nur in diesem, zeigt das Fernsehen, dass es besser als Plattformen wie YouTube dafür geeignet ist, sich selbst und seine Geschichte zu thematisieren und uns die ‚TV-Culture‘ zu erschließen.

Herbert Schwaab

Hinterlasse einen Kommentar